RAGATA, BEIFANG / 21.07.2017 - Kiel, Medusa

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Wer kennt die Aufkleber von Beifang nicht? Diese sind so ungefähr an jeder zweiten Ampel oder Straßenlaterne in Kiel zu finden. Daher war mir bis vor diesem Abend zumindest der Name und das Logo der Kieler Ska-Punks bekannt, die Musik jedoch nicht. Dies ändert sich jedoch gegen 21:40, als die 7 Musiker (inklusive Saxophon und Posaune) die kleine Bühne des Medusa betreten und mit etwas Verspätung den Abend eröffnen.

RAGATA




Vorweg möchte ich kurz anmerken, dass Ska nun gar nicht meine Welt ist; außer den Italienern von Talco (St. Pauli!) ist Ska-Punk mir bisher auch immer fremd geblieben. Ich bekomme eben lieber eine gegeigt als einen geblasen.

Nichtsdestotrotz ist jenes, was hier aus den Boxen kommt, selbst für mich durchaus hörbar. Saubere Breaks, ich merke gleich, die Band ist gut eingespielt. Langsame Stellen mischen sich mit Parts, die einfach nur nach vorne gehen. Von Ska ohne Punk (da fehlt die E-Gitarre) über Ska mit Punk (da ist sie wieder dabei) bis zu Punk ohne Ska (da fehlen wiederum die Bläser) gibt es die ganze Bandbreite – und das teilweise in einem Lied. Dazu kommen deutsche Texte mit sozialkritischen Inhalt.

Da mir die Vergleichsmöglichkeiten fehlen, behaupte ich einfach mal, die beiden Herrn am Blech sind längst keine Anfänger mehr und haben nicht erst vor 6 Monaten von dem Bontempi Plastik Model für € 17,99 auf das Profi Model gewechselt.

Für Bewegung wird nebenbei auch gesorgt. Zwischendurch erklingen „Hey Heys“, der Sänger führt mit ganz großen Schritten eine Polonäse an oder das Publikum ganz vorne wird aufgefordert, sich auf dem Boden nieder zu lassen. Wenn das so szenetypisch ist, dann mal los. Ist immer noch besser, als sich vorne in der Pit einen Ellenbogen einzufangen.

Ich fand‘s gut, wer Ska und Bläser mag, wird Beifang ohne Zweifel noch weit mehr schätzen.  


RAGATA


Der Blick in diverse Deutsch/Schwedische Online Wörterbücher macht mich nicht schlauer. Als Übersetzung des Namens der Band aus Malmö wird unter anderem Rachegöttin, Hausdrache, Schreckschraube oder Streitaxt angeboten. Da die ersten drei zumindest in die gleiche Richtung gehen, wird der Name wohl nicht letzteres bedeuten.

Mir war die 2015 gegründete Band bis eine Woche vor dem Konzert völlig unbekannt. Aber ins Medusa kann man ja immer und eine schlechte Band aus Schweden ist so selten wie ein Nashorn auf dem Mond. Zudem gibt es auf Spotify (leider nur) 3 Lieder, die allesamt als Kracher durchgehen.

Ragata beschreiben ihren Stil selbst als glamourösen und verschwitzten Feministinnen Punk. Das ist schon mal super! Außerdem wollen sie das Patriarchat zerstören – es muss ja nicht immer das ganze System sein. Dass z.B. die Rente sicher bleibt, darauf hoffen wir doch alle irgendwie insgeheim.

Nach mittellanger Umbaupause betritt die Band die Bühne. Das wird schräg, denkt jetzt bestimmt so mancher im gut gefüllten Medusa. Was für eine coole Truppe!, denkt der Rest. So kommt z.B. die Sängerin in einem Leo Catsuit und Chucks daher, die Keyboarderin als südamerikanische Tänzerin und die Gitarristin könnte ohne Zweifel in jeder NY-Hardcore Band den ganzen Chauvinisten mal zeigen, was ne Harke ist. Doch bleibt es dabei? Ist hier mehr Show als Punk und Feminismus?


RAGATA


Mitnichten! Es dauert keine 30 Sekunden, da kocht bereits die Stimmung in den ersten Reihen über. Wenig später bildet sich sogar der erste kleine Mosh Pit. Nach eigener Aussage ist dies heute Abend ihr erstes Konzert außerhalb von Schweden und ein Album ist noch nicht veröffentlicht. Dafür ist hier aber schon Stimmung! Oder um es umgangssprachlich auszudrücken: Mein lieber Scholli! Das ganze geht ja ab wie Nachbars Lumpi - wenn der Postmann zweimal klingelt.

Ragata spielen super melodiösen Punk Rock, der zudem noch extremst eingängig ist. Dazu kommt der emotionale und druckvolle Gesang der Sängerin, deren Stimme perfekt zum dem sonstigen Sound passt und der gelegentlich durch die Keyboarderin ergänzt wird. Bass und Schlagzeug ist Top, die E-Gitarre wird eiskalt geschreddert. Ragata ist definitiv glamourös und verschwitzt sind in dem Schuppen sowieso schon längst alle. That‘s Sweden and Feminist Punk at its best!

Mir fehlen da leider die Vergleiche. Baboon Show ist rotziger und rauer, Masshysteri oder Vanna Inget nicht derart punkig und Sista Sekunden mehr Geschrei und außerdem brüllt da ein Kerl. Aber immerhin sind alle genannten Beispiele aus Schweden.

Über ca. 12 Titel werden heute gespielt und die Befürchtung, dass nach 3 Liedern womöglich schon Ende ist, bewahrheitet sich glücklicherweise nicht. Leider ist mein Schwedisch (Einführungskurs VHS) noch schlechter als mein Französisch (Pflichtfach), aber die Namen der Titel lassen erahnen, worum es geht. Ich erwähne nur Nu a Jag, Gammal Punk oder Ta digsammana(?!). Eine herrliche Sprache! Hier dürfte jedem klar sein, dass Machos einpacken und Chauvinisten nach hause gehen sollen. Und das Patriarchat gehört abgeschafft, und zwar plötzlich! So eindringlich und gleichsam unmissverständlich haben es nicht mal Sleater-Kinney 1995 auf Vinyl gepresst. Hier und heute ganz klar ein Konzert Highlight des Jahres!

Tack och välkommen tillbaka! an die Schreckschrauben (ich nehme einfach mal diese Übersetzung), vielen Dank an East-Coast-Concerts und an das nette Team vom Medusa für einen spitzen Abend!

Kommentare   

+1 #1 gaardenpunx 2017-07-26 19:08
Dom Frank, hat recht! Dem kann ich nur beiwohnen und zustimmen. Eindeutig jetzt schon heißester Anwärter auf "Konzert des Jahres". Und da ich die Damen und.. noch etwas näher beleuchten konnte... Menschlich 1 + !!!! Bitte wieder kommen und dann mit LP!!!
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