Lee Ranaldo/Electric Trim Trio, Jean D.L. & Karen Willems (02.03.2018, Kampnagel, Hamburg)

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Soo toll fand ich Lee Ranaldos schon letzten Spätsommer erschienenes aktuelles Album „Electric Trim“ nach den ersten Durchläufen nicht. Zu offensichtliche Beatles-Psychedelia-Einflüsse für meinen Geschmack. Der Künstler selbst vermeldete, er sei sehr stolz auf die Platte, und wahrscheinlich ist Ranaldo mit „Electric Trim“ glücklich bei sich selbst angekommen oder zumindest bei einem Teil von sich selbst und seiner (nicht nur musikalischen) Sozialisation: Der Auftritt der Beatles in der „Ed Sullivan Show“ (1964) hatte auf ihn wie auf so viele Andere eine zutiefst elektrisierende Wirkung und machte ihn zum lebenslangen Fan. Später wurde er Kiffer, las Leary und Castaneda und hörte dazu Grateful Dead. „Lee ging total auf diesen ganzen Hippie-Dippy-Friede-Freude-Eierkuchen-Scheiß ab“, wird ein Kinderfreund von ihm in David Brownes ausführlicher Sonic-Youth-Biografie „Goodbye 20th Century“ zitiert. In den 1970ern trat er mit Hornbrille als Hälfte eines langhaarigen Folk-Duos namens „Tumbleweed“ auf.

Bei SONIC YOUTH schrieb und sang er die melodischsten Stücke, wobei er weniger häufig in Erscheinung trat als Kim Gordon und Thurston Moore. Irgendwo metaphorisierte mal einer, Lee Ranaldo wäre der George Harrison von Sonic Youth. Kann man so stehen lassen. Ist Kim Gordon demzufolge John Lennon? Schon viel kniffeliger. Und es war Lee Ranaldo, der sich vor ein paar Jahren in herausragender Weise um den Soundtrack zu Todd Haines´ extrem ungewöhnlicher Dylan-Durchdringung „I´m Not There“ kümmerte, indem er als musikalischer Leiter einer Art Hausband aus Steve Shelley, Nels Cline, John Medeski, dem langjährigen Dylan-Bassisten Tony Garnier und anderen Haudegen fungierte.

Daß er nach dem Ende von Sonic Youth zwei relativ konventionelle (und ganz wunderbare, das soll hier nicht verschwiegen werden!) Indie-Rock-Alben veröffentlichte, überrascht zumindest im Nachhinein nicht wirklich. Als 2012 „Between The Times And The Tides“ erschien, dem man die Herkunftsband noch deutlich anhört, gab es dennoch ein gewisses Erstaunen in den Medien, weil Ranaldo in den Jahrzehnten davor eine ziemliche Menge avantgardistisches Zeug unters kunstsinnige Volk gebracht hatte, das nun wahrlich nicht so glatt ins Ohr ging wie Peter Alexander. Und das ist eben die ganz andere musikalische Seite dieses grauhaarigen Gitarreninnovators, der bestens gelaunt im Kreise seiner Tour-Entourage im Restaurant des „Kampnagel“ zu Abend ißt, als ich hineingestolpert komme, weil´s hier Kaffee geben soll. Augenblicklich befällt mich eine leise Ehrfurcht, und ich sehe zu, daß ich und mein Kaffee wieder hinauskommen.

Meine neue Gitarre 02. März 18 Kopie
Schon interessant, wie sich Sonic Youth seit 2011 in ihre Einzelteile aufgedröselt haben: Lee Ranaldo entwickelt sein elektrisches Singer-Songwriter-Ding weiter und löst damit die Versprechen seiner Beiträge zum Sonic-Youth-Katalog ein. Kim Gordon brilliert am anderen Ende des Spektrums als No-Wave-Krawalltante (Das Album „Coming Apart“, das sie mit Bill Nace unter dem Namen BODY/HEAD gemacht hat, kann ich sehr empfehlen, ist aber nichts für Liedhörer!). Und Thurston Moore macht sicher die sonicyouthigste Musik von allen, was neben seiner Gesangsstimme auch am unverkennbaren Geklingel seiner Fender Jazzmaster liegt. Erst heute Nachmittag habe ich eine Fender Jazzmaster aus den späten Sechzigern im Ü-Raum getestet, nachdem mir vor einigen Tagen klar geworden war, dass ich mich nach 27 Jahren von meiner Gibson Firebird scheiden lassen werde. Und jetzt bin ich dank Schacke Krügers Gästelisten-Connection bei Lee Ranaldo, der ebenfalls häufig Jazzmasters benutzt. Das Eine hat mit dem Anderen natürlich nichts zu tun, und mein Gerede darüber grenzt ans Esoterische, aber mir ist trotzdem gerade recht feierlich zumute.

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Unrettbar an der Vergangenheit klebende Blahsusen wie ich betrachten diesen Konzertabend zumindest momentweise durch einen Sonic-Youth-Filter, und aus dieser Perspektive erscheint der Support JEAN D.L. & KAREN WILLEMS mehr als passend: Free-Form-Gedaddel mit Gitarre, Tapes, Drums und diversem Geklöppel! Die Schlagzeugerin Karen Willems spielt einen jazzigen aber keinesfalls akademischen Stil und das mit viel Freude. Immer wieder lächelt sie verzückt, und je nachdem, was der ständig morphenden Musik gerade steht, stößt sie unterschiedliche schamanische Juchzlaute aus. Jean De Lacoste hingegen, eher der kathartische Typ, schrubbt sich, bevor der Auftritt halb vorbei ist, die Schlaghand blutig und die Hose auf halb acht. Kryptische, geradezu konvulsivisch geprügelte Akkorde, eine abgeschedderte Gitarre, mit dem ganzen Mann gespielt - aber cleaner Sound und sich überlagernde Delays. Zwischendurch wirft er Kassetten in ein konsolenartiges Abspielgerät: Rauschen, Stimmen, metallische Glockenschläge. Ein, zwei Mal vergesse ich die laufenden Bänder und wundere mich, woher die offensichtlich keinem/keiner der Musiker_innen zuzuordnenden Klänge herkommen.

Die Fokussierung auf das unmittelbare JETZT ist natürlich von kaum steigerbarer Radikalität, wenn man solche Musik macht. Jeder Ton, jedes Geräusch, alles hat im Gesamtwerk absoluten Unikatcharakter und besiegelt im Moment seines Entstehens die eigene Vergänglichkeit. Es geht um Sound, Dynamik, Atmosphäre und Interaktion. Das Leben ist eine Kette unwiederbringlicher Momente, und man tut gut daran, nichts davon zu versäumen. Spannungsgeladene Gegenwart und intensive Begegnung.

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Großartige Show also, und man kann sich vorstellen, daß Lee Ranaldo das bestimmt ebenfalls gefällt. Sonic Youth haben auf ihrem eigenen Label SYR (Sonic Youth Recordings) 9 Alben mit experimenteller Musik veröffentlicht, viel Improvisiertes aber z.B. auch schmissige Stockhausen-Covers. Nach heute Abend bekomme ich bestimmt Lust, die mal wieder aufzulegen.

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Erste Erkenntnis: Kein Bassist. Rechts Lee Ranaldo, links steht Raül Fernandez Miró a.k.a. Raul Refree aus Barcelona; Musiker, Komponist, Künstler und (nicht zu vergessen!) Produzent der "Electric Trim“! Er spielt eine puffrote Gibson SG mit 3 Humbuckern und einem Bigsby-Vibrato. Außerdem bedient er ein Ensemble elektronischer Instrumente, die vor ihm auf einem kleinen Tischchen angeordnet sind.

Das ELECTRIC TRIM TRIO beginnt sein Set mit „Moroccan Mountains“, dem programmatischen Opener des zugrundeliegenden Albums. Ranaldos Martin-Gitarre ist (wie bei ihm üblich) auf einen offenen Akkord gestimmt, so daß er 6 Leersaiten schwingen lassen kann, wenn er die Gitarre anschlägt: Maximale Auslastung, ein mächtiger Klang mit endlos Sustain und vielen Obertönen füllt den Raum. Ranaldo reichert den Sound noch an und bringt ihn zum Vibrieren, indem er gezielt harmonische Feedbacks aus seinem alten Fender-Verstärker lockt. Dabei lehnt er sich engagiert in die Einflugschneise, wie Gitarristen das halt so tun, wenn sie ihr Equipment einschätzen können.

Booker Stardrum, dessen glamouröses Alias reizvoll mit seiner Buchhändler-Azubi-Optik kontrastiert, lotet derweil die Möglichkeiten seines Kits aus: Zwischen den wuchtigen Akzenten, die sich punktgenau mit Ranaldos Akkorden treffen, läßt er die Standtom rummeln, die Becken zischen und flirren und erzeugt mit ähnlichem um sich herum liegenden Percussion-Kleinkram, wie ihn auch Karen Willems einsetzte, eine irre Palette an Sounds. Auch sein Spiel ist Jazz-informiert, aber ab jetzt werden hier Songs gespielt – Songs allerdings, deren Arrangements und Dramaturgien offener, räumlicher und an vielen Stellen überraschender sind als auf Lee Ranaldos bisherigen post-SY-Rockalben, womit sie sich strukturell teils sogar wieder Sonic Youth annähren. Was ja auch gar nicht der wichtigste Aspekt ist, nimm ma die SY-Brille ab! Ranaldo ist Solokünstler in his own right, und das hier ist einfach schöne und außergewöhnliche Musik, gespielt von geilen Typen, vor einem Publikum, das die Sache zu schätzen weiß. Bin froh, hier zu sein.

Denn ich habe „Electric Trim“ ignoriert, sträflich ignoriert sogar. Sie kam raus, schockte mich irgendwie nicht so an, und dann kamen die nächsten 100 Platten, die ich hören mußte. Und während sie sich mir durch diese Live-Performance plötzlich zu erschließen beginnt, spielt die Band schon „Circular“, das straighteste, am ehesten den Vorgängerwerken ähnelnde Stück. Die jubilierende One-Chord-Coda am Ende gehört zu den schönsten Passagen in Ranaldos Werk. „You´re ancient / You´re epic / Overhauled / So specific“. Mit dem Wissen, daß der Song „…about routines…“ ist, wie Ranaldo erklärt, bin ich geneigt, diese vier Zeilen als Ausdruck der Wiederentdeckung des/der Geliebten zu interpretieren; als das Resultat erfolgreicher Beziehungsarbeit in langjährigen Partnerschaften, die es den Protagonist_innen ermöglicht, ihr Gegenüber in all seiner Einzigartigkeit und Liebenswürdigkeit wieder zu SEHEN, nachdem der ganze Alltagsschutt mal weggekarrt worden ist.

Bei „Uncle Skeleton“ glänzt Raul Refree mit den markanten, an Morricone erinnernden Leads, aber dieser kleine, konzentriert und listig blickende Mann mit dem eigentümlichen Bart scheint ohnehin nicht dafür gemacht zu sein, doof zu klingen. Er ist mindestens zwei Musiker in einem und ein Segen für dieses Line-Up. Und obwohl man auf den Studioversionen der neuen Stücke viel mehr Instrumente hört, fehlt hier heute Abend nichts. Bezeichnenderweise vermisse ich lediglich bei den zwei Einstreuseln der vorigen Platten vage eine Baßgitarre, aber die Songs sind gut genug, um diese Lücke größtenteils wieder zu schließen. Ansonsten konsequent, nahezu ausschließlich das neue Material zu spielen, denn „Electric Trim“ ist wie aus einem schillernden Guß und in Ranaldos Katalog eine stand-alone-Platte.

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Ganz unten auf der Setliste steht „Ocean“. Ich finde diesen Titel auf keinem Lee-Album. Ein Velvet-Underground-Cover in der Hinterhand? Wahrscheinlicher ist, daß sie die Lärmskulptur, mit der sie das Konzert ausläuten, so genannt haben. Es macht einen Unterschied, ob alle einfach so drauflosnoisen oder ob es gewisse Absprachen gibt, auf deren Basis jeder darauf achtet, wo die Anderen gerade sind. Ich liebe sowas! Nach einem halben Leben bei Sonic Youth ist Ranaldo quasi eine Koryphäe des organisierten Krachs, und seine Mitstreiter stehen ihm in nichts nach. Es beginnt prasselnd, fauchend und chaotisch, sortiert sich dann zu einem atonalem Dronecluster, bis am Ende wieder dieser eine, erhabene TON schwingt, mit dem sie das Konzert auch gestartet haben. Ranaldo nimmt seinen Geigenbogen vom Verstärker und streicht über die Saiten. Booker Stardrum schüttelt ein Bündel Tempelglöckchen. Raul Refree steht am Elektrotisch und ist unisono mit dem Chef. So geht es zuende, der Sturm hat sich gelegt, und die Leute sind dankbar. Begeisterter Applaus.

Nur wenig später am Merchstand hat Lee Ranaldo für Jede/n ein freundliches Wort. Ein Paradebeispiel der Aufgeräumtheit, dieser Mann. Wie von selbst entsteht eine ordentliche Schlange aus Menschen, die sich Platten und CDs signieren lassen wollen. „Hi, how are you?“ begrüßt er alle und schaut sie mit seinen großen, wachen, braunen Augen an. Jeder kann sich gesehen und wertgeschätzt fühlen. Das wirkt souverän und professionell, hat aber in keinem Moment was von „Fan-Abfertigung“. Unterschrift und Widmung auf der mitgebrachten CD einsacken, fragen, ob etwas gegen ein silly selfie spricht, viel mehr bekomme ich nicht zustande…

„Thank you for being Lee Ranaldo.“

„Thank you for being Steffen.“

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Sonic Youth sind in meinen ewigen Top Three. Es macht mich verlegen, in direkten Kontakt mit solchen Typen zu treten, und hinterher hoffe ich immer, sie fanden mich nicht lulle. Ich komme zum Glück nicht dazu, groß über diese Frage nachzudenken, denn Ralf Krüger stellt mich Raul Refree vor, und da flutscht es gleich besser: Ich erzähle ihm, daß „Electric Trim“ als Studioalbum aus meiner Sicht erstmal nahelege, live mit großem Orchester umgesetzt zu werden; daß ich aber echt geplättet sei, wie gut das mit dieser Dreierbesetzung funktioniert hätte. Das scheint ihn zu freuen, und er bekräftigt, daß die Songs, so wie sie sind, nicht zwingend ein „…low end…“ benötigen; daß vielmehr ihre Offenheit ohne Baßfrequenzen vielleicht sogar besser zur Geltung komme. Na also. Dann steckt Schacke, die alte Plaudertüte, ihm, daß ich selber Musiker sei, worauf er wie aus der Pistole geschossen mit ehrlichem Interesse reagiert und wissen möchte, was ich so mache. Na, im Moment ja gar nix. Öh. Toller Musiker. Soll ich dem jetzt was von KEINE ZÄHNE IM MAUL ABER LA PALOMA PFEIFEN erzählen?

„I used to have a band, we played a mixture of Punkrock, Indierock and electronic bits.“

„Ah, sounds interesting!“

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Am Ende schreibt er mir einen längeren Text auf das Backcover einer 10inch von ihm, die ich unmöglich liegen lassen konnte: Der 1. Release einer geplanten Serie mit Musik, die work in progress sei. Ok! Wie geil is das denn, Sachen auf den Markt werfen zu können, die work in progress sind?! Und soll ich Euch was sagen? Die Platte ist toll, lauter Instrumentals mit jeweils einer Gitarre, von kontemplativem Gezupfe bis hin zu minimalistischem Drone. Da werde ich dranbleiben.

tuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuth
Auf der Heimfahrt lasse ich Lee Ranaldos „Broken Circle/Spiral Hill“-EP im Auto-CD-Player laufen: Gitarrentexturen, rudimentäre Harmonien, runtergepitchte Spoken-Word-Passagen, alles schön lo-fi, atmosphärisch und nebulös beunruhigend. In meiner leicht schlafentzügig aufgekratzen Stimmung und gepusht von dem Glück, das ich empfinde (neue Gitarre, Superkonzert gesehen, und da war noch mehr, aber das geht Euch nichts an..) kommt es mir vor, als könnte ich eine direkte Verbindung zwischen diesen seltsam intimen Miniaturen und „Electric Trim“ herstellen. Gleichzeitig muß ich zwischen den einzelnen Stücken immer an „Blues For Spacegirl“ denken, Thurston Moores Beitrag zu einer Compilation namens „Guitarorists“, von dem ich immer höchst fasziniert war, weil er komplett ohne Töne im weitesten Sinne auskam sondern Gitarrespielen auf Verstärkerrauschen reduzierte. Solche Abende erinnern einen wieder daran, was für ein schwindelerregend weites Feld diese „Musik“ ist.

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Kommentare   

+15 #3 d. urchurchblick 2018-03-08 20:07
Das hat dazu gebracht mal nach "Scheiß Gitarre" zu guugeln.
"Der Hals ist so krumm wie ’ne Buckelpiste. Allerdings lässt sich mit einer anständigen Buckelpiste mehr Spaß haben. Er besteht aus irgendeinem Scheißholz, dem man täglich sagen muss, dass es kein Baum mehr ist. Und er ist mit einer schwarzen Pampe angemalt worden, um geizige Schulmusiklehrer in Gitarrenläden gemein täuschen zu wollen.
• Die Bünde eignen sich nichtmal zum Koks zusammenschieben und sind wahllos irgendwohin gefräst worden.
• Die Schallochrosette ist ein Kinder-Klebe-Tattoo…nur mit blödem Motiv und halb abgeblättert. Ein paar Piratenmotive hätten mehr für die Klampfe getan, als dieses Küchenkachelmuster aus den 50’ern.

Ist doch unterhaltsam. Wie wärs mit nem Contest: "Wer hat die mieseste (Gitarre)"
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+6 #2 Steven Frame 2018-03-05 14:40
Da haste ja aus der Deckung mal so richtig einen losgelassen.
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-6 #1 Stevenfixedframehead 2018-03-05 05:05
Jeder Kiffer hat mehr verstanden als der Musikequipment-Techniknerd. Wen interessiert irgend ne Scheiß-Gitarre? Dies gilt erst recht für Deine Scheiß-Gitarre.
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