PiL / 08.10.2023 - Hamburg, Gruenspan

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Johnny, Lu, Bruce und Scotty sind PUBLIC IMAGE LTD.s langlebigste Besetzung und eine musikalische Macht, die vorgestern Abend im Hamburger „Gruenspan“ eventuelle Restzweifel an der Vereinbarkeit von „punk“ und „alt“ im Handstreich erledigte. Aber ma ehrlich, wen interessieren solche Fragen überhaupt noch? Wir altern vor uns hin, leben unsere Leben zuende, wollen was erleben, haben Bands, gehen auf Konzerte, scheint zu funktionieren, also was?
 
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Viel relevanter finde ich, wie exquisit dieses Line-Up das beträchtliche Erbe PILs pflegt: Die aktuellen Inkarnationen des bis zu 45 Jahre alten Materials sind einfach top! Einerseits auf Anhieb wiederzuerkennen, andererseits geschmackvoll modernisiert und musikalisiert. Wenn z.B. bei „Flowers Of Romance“ vom gleichnamigen Album aus dem Jahr 1983 Bruce Smith stehend das Pattern in die Toms klöppelt, Lu Edmonds seine elektrifizierte Saz mit einem Geigenbogen bearbeitet und Scott Firth wirklich gute Stringsounds aus seinem Keyboard holt, klingt das wie eine Frischzellenkur für den Song, gleichermaßen aber würdig und integer. Das Experimentelle ist noch da, das Schnellschußmäßige des Originals angemessen relativiert.
 
 
Am anderen Ende des stilistischen Portfolios steht z.B. „The Body“ aus PILs Eighties-Poprock-Phase, dem die Band aber auf die gleiche Weise mehr als gerecht wird. Wunderbare Chorgesänge von Firth und Edmonds, wie auch beim zuletzt gespielten „Rise“, einem Standalone-Rocksong vom Schlage „Heroes“, „Powderfinger“ oder „Teenage Riot“. Could be wrong-ah! Could be rrrright! Meine Kinder singen das schon mit.
 
 
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Überhaupt Edmonds: Traumhafter Gitarrist, immer dienlich, immer interessant aber nie unangenehm gitarristisch. Der perfekte Musiker für diese Gruppe (was aber für Smith und Firth nicht weniger gilt)! Und der Mensch am Mischpult macht ebenfalls einen ausgezeichneten Job: Der Sound ist vom Opener „Penge“ an bis zum Ende transparent, druckvoll und im Frequenzspektrum ausgewogen. Punk ist das nicht, aber wer gibt einen Geschlechtsverkehr? Warum schreibe ich das?
 
 
Gute Setliste auch: 3 Songs von „End Of World“, dem aktuellen Album, das ich auch nach diesem denkwürdigen Konzert relativ mau finde, 4 von „Metalbox“ („Poptones“-ah!, daß ich das noch erleben darf), das Leftfield-Cover „Open Up“ und darüber hinaus von jedem PIL-Album außer „That What Is Not“ jeweils ein Stück.
 
 
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„Being Stupid Again“, der Song mit dem doch reichlich boomermäßigen Text, wird auch gegeben, naja, zwingender Groove natürlich, aber auch ein Moment, in dem John Lydon seinem singulären Status nicht gerecht wird, weil er leider nur auf die gleiche Weise rumnörgelt wie viele Andere halt auch und sich somit (mein bescheidenes Erleben) durchaus unter Wert verkauft. Sein stehpisserhaftes Rumgezerre am Hosengurt wenig später fügt diesem halbgaren Moment sogar eine unkomfortable haptische Entsprechung hinzu. Viele haben sich von ihm abgewandt, weil er Wertschätzung für Donald Trump ausdrückte, aber John Lydon wollte nie dein Kumpel und deine Stimme sein, nehme ich mal an. Sein unberechenbares Dagegensein ist, wie ich neulich in einem „Guardian“-Artikel las, womöglich auch Resultat der Meningitis, die ihn als Kind beutelte. Ich weiß nicht, wie das ist, wenn man nahezu totale Amnesie hat, den eigenen Namen nicht mehr weiß und sich seine innere Repräsentanz der Welt über Jahre wieder zusammenklauben muß. Da werden 360 Grad Renitenz vielleicht auch zur Überlebensstrategie.
 
 
Genug der Einplattenherdpsychologie, Lydon ist anteilig todsicher auch ein ätzender alter Arsch, aber was hat er uns nicht alles gegeben mit seiner Kunst, mit der Figur, die er erschaffen hat, der Haltung, der Attitüde, goddammit!1? WOT is angerrr!? Dieser Mann ist nicht weniger lebende Mythologie als Dylan oder demnächst Springsteen. Wenn sie zu Beginn der Zugabe das ikonische „Public Image“ spielen, dann ist das heute noch mehr als früher sein unzweifelhaftes Siegesgeheul, Ausdruck und Beweis seines Sieges über die Zeit, die life struggles, die Trauer um abwesende geliebte Personen von Nora bis Sid, die Anfeindungen, den Suff und alles Andere. Alle Herzen fliegen ihm zu, und der sehnige Typ neben mir, der ihn keine Sekunde aus den Augen läßt, erinnert mich an Speedy, in dessen Kinderzimmer ich die „Never Mind The Bollocks“ zum ersten Mal hörte. May the road undsoweiter.
 

Bewertung: 5 / 5

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