KISS, THE NEW ROSES / 13.06.2022 - Hamburg, Barclaycard Arena

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KISS sind der Ausgangspunkt meiner musikalischen Sozialisation. Nuff said. Herzzerreißende Anekdoten über vom Vater der Wand entrissene Starschnitte oder über Heulkrämpfe wegen vom Kasi gefressener Tapes klemme ich mir, denn:
 
Das Hamburger „End Of The Road“-Konzert kann endlich stattfinden, es wird wohl mein letztes Kiss-Konzert sein, und der Gedanke, daß Kiss den Zeitpunkt, an dem sie es hätten gut sein lassen können, hoffnungslos verpaßt haben, gehört mittlerweile dazu. Ich so vorher: „Abgehalftert, Paul Stanleys Stimme, auweia“ und hinterher: „Super, meine Jugend, Paul Stanley, geiler Typ!“
 
 
KISS
 
Was soll man schreiben über eine Band, die seit Jahrzehnten ihre eigene Coverband ist und so durchritualisiert wie „Dinner For One“? Neulich fragte mich KNARF RELLÖM, was es mit den SS-Runen im Bandlogo auf sich hätte. Naja, antwortete ich, gebrieft von zahlreichen BRAVO-Artikeln aus meiner Kindheit, das sollten halt Blitze sein, näh?
 
„Das kann ich nicht glauben!“ entgegnete er, „die SS-Runen sind weltberüchtigt.“ - und daß es Gene Simmons‘ Mutter, die als Einzige ihrer Familie den Holocaust überlebt hat, das Herz gebrochen haben muß, das Abzeichen ihrer Peiniger im Logo der Rockband des Sohnes wiedersehen zu müssen. Retraumatisierend.
 
Im Netz findet man/fand ich nach schlusiger Recherche, die den Namen nicht verdient, nichts darüber, auch nicht über etwaige entsetzte Reaktionen aus der jüdischen community New Yorks, Mitte der 1970er. Ace Frehley, Besitzer von Nazi-Memorabilia mit Hang zur Naziverkleidung und fragwürdigem Humor, soll die Idee gehabt haben, und daß sich die Zacken gut in Schulbänke ritzen ließen, ist eine hübsche Geschichte mit perversem doppelten Boden. Heute liegen die Rechte am Doppel-S bei den Juden Simmons und Stanley. Die Juden haben die Kontrolle über die SS, und kiSS waren schon immer so politisch wie ein Whirlpool voller Wackelpudding.
 
„NEW ROSES, hast du die nicht auch mal gehört?“ fragt mich die Liebste beim Anblick des stattlichen Backdrops der Vorband, der sich freilich mickrig ausnimmt im Vergleich mit der megalomanischen Kiss-Bühnenkonstruktion. Oben die Phalanx aus Oktagonen, links und rechts riesige Kiss-Army-Banner und überdenkmalsgroße Aufblasestatuen des Demon und des Catman links, des Spaceman und des Starchilds rechts. Larger than larger than life. „Nee, das waren NEUROSIS“, antworte ich, „wie 'Neurosen'“, worauf wir beide lachen müssen.
 
 
KISS
 
 
New Roses klingen dann von A bis Z wie von Radio Bob gecastet. Rockblaupausen für Mumien, die vom Leben nix mehr wollen außer Abgeholtwerden. Die Songs so austauschbar, als hätte eine Software sie errechnet, die Texte aus dem Wortbaukasten, und der Frontmann hat jedes durchgelutschte Animationsmätzchen drauf. Ich habe in meinem Leben so oft und ausgiebig verbale Güllefässer über solchen Gruppen ausgeschüttet, das reicht für alt und neu. Seelenlose Klone.
 
„…AAAALRIGHT, HAMBURG!!!
 
Y.W.T.B.!!! Y.G.T.B.!!! T.H.B.I.T.W.!!: K.!!!!!!!!!“
 
Zum extended intro von „Detroit Rock City“ senken sich drei Oktagone vom Hallenhimmel herab, und auf ihnen stehen und spielen v.l.n.r. Gene Simmons, Paul Stanley und Tommy Thayer. Fucking Rückenmark, aber der Schauer, der mich überläuft, kommt von weit, weit hinter mir. Zeitreisen sollen theoretisch möglich sein, las ich neulich, und dies IST eine: Ich bin 10, meine Eltern schnallen nicht mal die Strecke von der Tapete bis zur Wand, ich lebe in Moron Village, und DIESE TYPEN sind meine einzige Hoffnung. I feel uptight on a saturday night, in meinem Zimmer, abgeschnitten von der Welt.
Explosionen und Feuerstöße, deren Hitze bis zu uns vordringt. Wir stehen vor dem Areal, in dem sich Misch- und Lichtpulte befinden, sowie Paul Stanleys Privatbühne, die er später auf dem Luftwege erreichen wird. Darauf freue ich mich schon. Aber es soll anders kommen.
 
 
KISSKISS
 
 
„Shout It Out Loud“ - nie mein Lieblingslied aber forever assoziiert mit Bart Simmons, der seinen Namensvetter Gene auf ungezählten Parties und 1997 in der Ostseehalle an der einschlägigen Stelle mit „ICH GLAUB, WIR HAM NE PARTY!“ synchronisierte und das heute vielleicht wieder tut. Ich tu‘s, zur Belustigung der Liebsten und Bart Simmons gedenkend. Er, Gene und ich, wir können akzentfrei deutsch röhren. If you don‘t feel good there‘s a way you could. Ich glaub, wir ham ne Party, und das Amüsierlevel steigt.
 
Kiss haben für diese Tournee ihren Maximalismus maximalisiert. Das Licht, die Laser, die Animationen auf dem Backdrop-Screen, all das ist so dermaßen over the top of the peak of the climax, daß man glauben möchte, der Geburt eines Planeten beizuwohnen, und Kiss sind die 4 Elemente, aus deren Chemie im Laufe der Äonen oder (je nachdem) kurz vor „Rock‘n‘Roll All Nite“ neues Leben entsteht. Liebe, Weltraum, Schock und Miau.
 
„HAMBURG!“ ruft Paul Stanley, womöglich durch sein intaktes Ohr ansouffliert. Das In-ear-monitoring dieser Band ist wie ein fluides Koordinatenkreuz, das ihnen jederzeit den Weg weist (https://www.youtube.com/watch?v=a9kJPRLKD5o...). Diese Ingenieursleistung als Episode der „Off The Soundboard“-Serie, und ich wär dabei!
 
 
KISS
 
 
Jeder Song bekommt ein eigenes Lichtdesign, muß man nicht extra drauf hinweisen. „Cold Gin“ erstrahlt in grün-schwarz-weiß, und die grobkörnig doppelsichtigen Übertragungen auf Backdrop und Sidescreens sollen natürlich aussehen, als seien sie in Bilder übersetzte Gehirnscans von Ace Frehley. Oder die Abstinenzler Paul & Gene stellen sich so Besoffenheit vor.
Tommy Thayers Gitarrensolo besteht einerseits aus dem erwartbaren Leadgenudel voller Acequotes, andererseits rettet er HAMBURG en passant vor einer außerirdischen Invasion, indem er mit seiner extremely customized Flying V eine fliegende Untertasse nach der anderen vom Firmament fetzt. Tommy Thayer, U.F.O. slayer!
 
Bereits bei „Tears Are Falling“ bereitet die Security die Einflugschneise für Paul Stanley vor, indem sie einen Graben von der großen zur kleinen Bühne in die Crowd modelliert. Die alte Transall soll schließlich niemandem auf den Dassel fallen, und dieser Mann besteht immerhin zu einem gewissen Prozentsatz aus Titan! Die erwähnte pink-gelb-schwarz-weiß illuminierte Powerballade vom Album „Asylum“ [1985] bekomme ich deswegen nur so halb mit, was mich reut. Warum lasse ich mich auch so ablenken?
 
Egal! Bei „Lick It Up“ erweisen zunächst die Gitarristen, später die ganze Band THE WHO die Ehre, indem sie das Outro des Klassikers „Won‘t Get Fooled Again“ zitieren: Paul Stanley und Tommy Thayer inmitten einer blau-pinken Laserkathedrale, intertwining achtel Singlenotes auf A spielend - Das ist für mich auch heute wieder der musikalisch schönste Moment des Konzerts. Mein Lieblings-Kiss-Gitarrensolo ist das von „100,000 Years“, und ich finde es super, daß genau diese Passage eine Suite beschließt, die mit „Psycho Circus“ beginnt und Eric Singers clowneskes Schlagzeugsolo als Zentrum hat.
 
Aber dann: Spot auf GENE SIMMONS! Er steht auf einer der achteckigen Plattformen, von deren Ecken Stahltrossen in die Dunkelheit ragen. Der Sound seines Punisher-Basses würde manchem Drone-Ensemble zur Ehre gereichen. Hall und Delay ohne Ende, ein tieftönendes Gewitter, und es ist direkt über uns. Der Backdropscreen zeigt sein Gesicht in Großaufnahme, das reptiloide Zucken, die ruckartigen Kopfbewegungen, den wackelnden Fontanellendutt. Hier kann man unmittelbar nachvollziehen, wie alte Gruselfilme seine Performance inspiriert haben. Er ist der Star in seinem eigenen B-Movie-Horrorflick, und die ersten Blutrinnsale laufen ihm aus dem Mund. Die Dramatik kumuliert, verdichtet sich, es muß raus, und der eigentliche Moment des Blutspuckens ist eine dunkelrote, dickflüssige, doomige Ejakulation, in deren Zentrum Simmons‘ unheiliger Fleischlappen rotiert. Gleich wird er (Gene, nicht seine Zunge) aufsteigen und „God Of Thunder“ singend auf uns herniederkommen.
 
 
Aber nein.
 
Es kommt so anders, es ist jenseits alles Vorstellbaren.
 
Ich bin mir immer noch unschlüssig, ob alles, was ich ab jetzt aus meiner Erinnerung aufschreibe, wirklich geschehen ist.
 
Nein. Doch.
 
 
KISS
 
 
Ist es Sabotage? Hat sich Vinnie Vincent mit angeklebtem Bart unter die Roadcrew geschmuggelt? Der TÜV geschlampt? Das wird vielleicht noch zu klären sein, jedenfalls passiert folgendes:
 
Unmittelbar nach dem Abheben von Simmons‘ achteckiger Standfläche reißen kurz nacheinander die beiden vorderen Stahlseile. Der Dämon stolpert und fällt vornüber, Richtung Bühnenkante vom Oktagon, als hätte er auf einem Kipplaster gestanden. Er wirft aus Reflex die Arme nach vorn und knallt mit dem vollen Gewicht seines Körpers, seines Instruments und seines Kostüms auf die Bretter. Im Moment seines Aufpralls stoppt der kakophonische Höllenkrach des Axtbasses mit einem häßlichen Knirschen. Aus dem „Golden Circle“, dem der Bühne am nächsten gelegenen Fan-Bereich, gellen Panikschreie, aus verschiedenen anderen Richtungen schallt Gejohle herüber, offenbar weil der Sturz des Bassisten als Show-Stunt mißdeutet wird. Klar, wir sind ja hier bei Kiss; da ist ALLES Show, und wenn mal WIRKLICH was passiert, ist es im Zweifelsfall immer noch Show. Wie blind kann man sein!?
 
Aber es braucht höchstens 5 zähe Sekunden, bis kollektiv durchsickert, daß hier etwas ganz gewaltig schiefgelaufen ist. Im Saal ist es so plötzlich still, wie es in einer für 10000 people ausgelegten Mehrzweckhalle halt sein kann. Still natürlich nicht, nichtmal leise. Man hört das Geraschel von Thermowesten, Kutten und sonstiger Kleidung, Schritte, Stampfen und vibrierendes Geraune, aus dem vereinzelte Pfiffe, natürlich auch Gelächter und das scharfe Ratschen zertretener Bierbecher herausschießen. Und als Grundrauschen, wenn man sich drauf besinnt, das Summen der Amps. „The amplifiers start to hum / The carnival has just begun“, heißt es in „Psycho Circus“, dem letzten, großen Kiss-Song, der sich gerade noch aufs Deck hechten konnte, als das Langboot schon Richtung Graue Anfurthen abgelegt hatte quasi. Unpassendes Bild, stimmt. Kiss waren nur 1x Fantasy, „The Elder“, klar, und das war vor 40 Jahren.
 
Damals gab es im Dritten eine Dokumentarreihe namens „Vor 40
Jahren“, in der kommentierte Wochenschauen aus der NS-Zeit liefen. Paul Stanley hat bei früheren Auftritten und auch in Deutschland „DO YOU WANT THE TOTAL WAR!!?“ gerufen, um das Publikum noch weiter an den Rand der hedonistischen Katarsis zu peitschen, es in Bereitschaft zu kommandieren, sich mit der letzten Pyro-Breitseite selbst in die Luft sprengen zu lassen.
Wo war ich rausgekommen? Genau: The carnival has just begun, aber hier beginnt gerade etwas ganz anderes.
 
Simmons liegt bäuchlings schief auf dem Bühnenboden, auf dem Korpus seines Punisher-Basses. Der augenscheinlich angebrochene Hals des Instruments ragt unter ihm hervor und drückt seine rechte Schulter auf den Boden. Wie oft hat er das Arbeitsethos seiner Band herausgestellt, daß sie nicht in Jeans und T-Shirt auf die Bühne kämen, sondern behängt mit dem ganzen zentnerschweren Rhabarber? Die Angaben über das Gewicht seines Kostüms uferten über die Jahrzehnte immer weiter aus; zuletzt war von Tonnen die Rede, was nicht angehen kann, aber wir sind ja hier bei Kiss und nicht beim Gesundheitssport oder bei der Wahrheit. Und jetzt liegt er wie ein Lava-Engel auf den Brettern, niedergedrückt von seiner Gitarre, und kann nicht aufstehen. Nobody‘s perfect but, Baby, I‘m awful close. Sein Brustpanzerkorsett ist nach oben gerutscht, so daß er kaum den Kopf heben kann, zumal das trocknende Kunstblut an seinem Haarteil zerrt. Mehr oder weniger liegt er mit dem Gesicht im roten Brei und erträgt seine Lage stoisch, hustet nicht einmal, geschweige, daß er um Hilfe ruft.
 
 
Denn die kommt von selbst: Zwei, drei (warum erst jetzt?) herbeieilende Stagehands und der stets verläßliche Eric Singer befreien ihn von der lädierten Axt und richten ihn mit einer wahrscheinlich extra für diese Art Panne einstudierten Folge von Griffen und Zügen auf. Paul Stanley ist offenbar nicht disponiert, irgend etwas für den alten Bruder im Kampfe zu tun. Mit den Plateustiefeln auf die Knie zu gehen verlangt ihm zuviel ab (Auf den Screens sieht man für einen Sekundenbruchteil den Anflug eines schmerzverzerrten Kußmunds, aber dann kehrt wieder vollständige Contenance ein.), allein ausgezogen bekommt er die klobigen Dinger auch nicht, also ist außer konsterniert und hilflos dastehen nicht viel. Thayer ebenso, obwohl er wahrscheinlich helfen könnte. Vielleicht eine Art Etikette oder Chef-Ängste seitens des Demons. Oder es liegt daran, daß seine Gitarre noch an ihm hängt wie ein vergessener Bauchladen. Die Rockmaschine ist aus dem Gleis gerumst.
 
„Gene! Gene!“-Rufe schälen sich, zunächst zögerlich (Pietät?), dann immer anfeuernder aus dem Geräuschteppich der Zahlenden. „Alter, der ist fertig“, konstatiert ein skinny guy mit Fellmütze und Ace-Stiefeln („Alive!“-Ära) neben mir zu sich selbst. Von links hinten höre ich im erregten Stimmengewirr jemanden sagen, daß dies sein 178. Kiss-Konzert sei, aber sowas wie das hier sei noch nie passiert. Na, sieh mal einer an, darauf wär ich auch so gekommen. Ich starre wie in Trance auf die Bühne, unfähig zu irgendeiner Interaktion. Manche/r scheint Tränen in den Augen zu haben, und zu lachen wagt niemand mehr. Die Spannung in der Hallenluft müßte Blitze produzieren, tut sie aber nicht.
 
 
Gene Simmons steht derangiert, leicht schwankend und nach vorn gebeugt auf der Bühne, vermeidet den Blick in die Crowd, von Stagehands und seinem Mitarbeiter des Tages, Eric Singer, umringt, die bei jedem Torkeln die Hände ausstrecken, bereit, ihn aufzufangen, falls er fallen sollte. Für einen Moment erinnert die Szene an einen waidwunden Dinosaurier, um den Hyänenwelpen herumspringen, unentschieden, ob sie spielen oder angreifen sollen. Die Sekunden, die diese bizarre Choreographie andauert, sind wie vorbeidünende Godzillaschnecken.
 
Dann fängt sich Chaim Witz, der 1958 mit seiner Mutter nach New York City kam und den Vornamen Eugene erhielt, weil „Chaim“, das hebräische Wort für „Leben“, englisch ausgesprochen „shame“ lautete, wie „Schande“. Er wendet sich wie in Zeitlupe den Tausenden zu, von denen viele jetzt endgültig das Reden einstellen aber nicht alle. Sein rot besudeltes, an mehreren Stellen zerbrochenes und verbogenes Kostüm, das ihn in eine unnatürliche und auf lange Sicht vielleicht schmerzhafte Körperhaltung zwingt (Verspannungen), harmoniert vollkommen mit seinem Blick, einem Gene-Simmons-Blick, wie ihn wahrscheinlich nur sein engstes privates Umfeld, Frau, Kinder, Assistent:innen, zu sehen bekommt, wenn überhaupt: Ein Blick frei von Theatralik; ein Blick, in dem der Vorhang gefallen ist, aber der MENSCH Gene Simmons hat es nicht mehr hinter die samtenen Fittiche geschafft. Alle können ihn sehen. Und er akzeptiert es, möchte es sogar. Er ist, um im Bild zu bleiben, ganz und gar ungeschminkt. „Nackt“ wäre übertrieben und unrealistisch, auch wenn ich mich wegen der Endzeithaftigkeit dessen, was sich hier abspielt, zu solchen Crescendi hinreißen lassen möchte. A million to one.
 
Gene Simmons sucht den Blick einzelner Konzertbesucher:innen. Manche in meiner unmittelbaren Nähe halten dem nicht stand, schaffen es nicht, ihm in die Augen er zu sehen, obwohl dies ihre einzige Gelegenheit im Leben sein könnte, GENE SIMMONS IN DIE AUGEN ZU SEHEN; braune, verklebte und zweifellos erschöpfte Augen aber die Augen eines Gottes. Oder etwas ähnlichem.
 
 
Ich aber weiß, daß mein Moment gleich kommen wird. Ich sehe die unsichtbaren Strahlen, die Simmons in die Menge richtet und beobachte, wie sie sich von rechts in einer langgezogenen Kurve meiner Position nähern. Es ist exakt wie damals beim PRINCE-Konzert in der Waldbühne, als ich sah, wie die schwenkende Kamera sich in meine Richtung bewegte und ich in genau dem Moment auf den Auslöser meiner Pocket-Digitalkamera drückte, als mein Gesicht (inmitten anderer Gesichter/Köpfe natürlich; aber deutlich zu erkennen!) auf dem Backdrops reen auftauchte. Auf dem Foto ist es fast größer als Prince.
 
Ich zähle einen Countdown, starre Gene Simmons an, und dann PASSIERT ES: ICH HABE DIREKTEN BLICKKONTAKT MIT GENE SIMMONS. Ohne 4000€-VIP-Paket schaue ich ihm unverwandt und völlig ohne Scheu ins Gesicht. Er hält inne. Er sieht den MELVINS-Schriftzug im Brustbereich meines T-Shirts, Kiss-Font, mit E und S als Blitze.
 
 
KISS
 
 
In diesem Gesicht, auf dessen schönheitschirurgisch gestraffter Oberfläche sich Schweiß, Make Up und Spuckblut vermischen, materialisiert sich ein listiges Lächeln. „That was a good band“, knurrt er am Mikrofon vorbei in meine Richtung, so daß die vorderen Reihen, ich also auch, es hören. „Wieso 'was'?“ denke ich, „die gibt‘s doch immer noch!“ Aber für jemanden wie Gene Simmons erwachen die Dinge wohl allein dadurch zum zum Leben, daß er sie wahrnimmt - um wieder dahinzuscheiden, wenn seine Aufmerksamkeit woanders hindriftet. Kann man sich nicht reindenken.
 
Und so sterbe ich auch ein bißchen, weil Gene Simmons sich vor dem Mikro ausrichtet, eine unbestimmte Ferne ins Visier nimmt und, heiliger Strohsack, anfängt, a capella und ein wenig brüchig zu singen: „Well, I know how it should beeeee…“
 
Die ohnehin in keiner Weise textinformierten, eher event-orientierten Bauchdaddies um uns herum wissen nun endgültig nicht mehr, was Trumpf ist, und die beiden in identische T-Shirts vom Merch-Stand (mit germanisiertem Logo, pfui) gewandeten Kreischalarm-Sisters warten immer noch auf „I Was Made For Loving You“. „Goin‘ Blind“ haben sie noch nie gehört.
 
Werden sie auch nicht, denn Simmons stockt nach der ersten Zeile, besinnt sich und sagt: „I wanna tell you 'bout my mother…“. Erneutes Stocken, Schlucken, Räuspern, sein Blick leert sich, seine Unterlippe erzittert, bebt, und über seine graubraunroten Wangen laufen Tränen, jede so groß wie ein Eßteller auf den Screens. Dann führen sie ihn von der Bühne. Die Ersten gehen, manche schimpfen.
 
UND DANN WAR ES DAS.
 
Das Konfetti bleibt in den Haubitzen.
 
 
Die letzte Gitarre nur angesägt.
 
The End Of The Road. Ende Gelände. Das Hallenlicht geht an. Vereinzeltes Buhen, Pfiffe, Einer brüllt „HEEELGA!“, was Gelächter erzeugt; verlegener Applaus wie beginnender Regen, wie eine kollektive Übersprungshandlung. Für geordnete Respektsbezeugungen sind die Leute zu geschockt.
 
Aber es erhebt sich Eric Singers silbernes „Beth“-Klavier aus den Katakomben unter der Bühne. Er, auch moppeliger geworden, klemmt sich dahinter und fängt an, eine Art Barmusik zu spielen. Dieser Typ kann einfach alles. Er ist der Hermes dieses auf die Erde sinkenden und harsch notgewasserten Olymps. Später wird mir einfallen, daß es „Hold Me, Touch Me“ von Paul Stanleys 1978 erschienener erster Solo-LP war, mit dem Eric Singer seine Begleitmusik zu diesem surrealen Ausklang eröffnete:
 
„That‘s it. We‘re done!“ glaube ich Paul Stanley zu einem der offenbar für den Moment von allem Geschufte entbundenen Roadies, die in Grüppchen auf der Bühne stehen oder sitzen, sagen zu hören. Er läßt sich eine Art Regiestuhl bringen und in denselben fallen, sich von 2 Roadies die Stiefel auszerren, und am Ende sitzt er da, barfuß, sich die Schienbeine reibend, milde und exhausted ins Hallenrund schauend, und fährt sich ab und zu durch die Haare, diese Pose, die ich so liebe. Ich wette, seine Füße stinken, aber es ist Drecksarbeit, er hat sie 50 Jahre lang gemacht, und selbst jetzt oder GERADE JETZT, in diesem nie für möglich gehaltenen, traumartigen Augenblick hat er diese Wirkung auf mich. I still love you, Paul Stanley. Tommy Thayer ist sich umziehen gegangen.
 
So vergehen vielleicht 20 Minuten, UND DANN steht plötzlich Gene Simmons im Saal; abgeschminkt, mit Brille (nicht Sonnenbrille!) und bester Laune. Er trägt einen schwarzen Bademantel, mit dem „Demon“-Emoticon auf den Rücken gestickt, und bequeme Freizeitslipper. Und obwohl, nein: WEIL er sich hier gerade so Udo-Jürgens-mäßig präsentiert, weichen die noch Anwesenden ehrfürchtig, beinah ängstlich vor ihm zurück, aber das legt sich. Irritierter Applaus und Wellen des Jubels begleiten ihn, während er sich eine Laugenbrezel vom Stand holt und sich auf einen freigewordenen Platz setzt. Die Ersten nähern sich ihm, sagen „Hey, Gene!“, wollen Unterschriften, aber er hat keinen Stift mitgenommen (absichtlich, denk ich mal) und nimmt sich mit väterlich anmutender Herzlichkeit für Jede/n Zeit für ein paar Worte, macht Scherze, fragt interessiert nach und sagt immer wieder mit liebenswerter Koketterie „SPRECKEN SIE KEIN DEUTSCH?!“, wenn ihn jemand auf englisch anspricht.
 
„Als wäre er angekommen“, sagt meine Liebste und drückt meine Hand. „Ja, oder exorziert“, erwidere ich, auch wenn es terminologisch falsch ist, denn wenn hier irgendetwas ausgetrieben wurde, dann der Dämon aus Chaim Witz. Aber das sind angesichts dieser epochalen Eindrücke jämmerliche Wortklaubereien und Flausen.
 
Eric Singer spielt dazu „See You Tonite“, wie er vorher „Don‘t You Let Me Down“, „Forever“, „A World Without Heroes“, „Shandi“ oder „Hard Luck Woman“ gespielt hat - und „I“ in einer rollenden Boogiewoogie-Version, die das Original topt. Verdammt, wieso kann der das alles spielen?! Auf dem Klavier.
 
 
Natürlich würde ich auch gern ein paar freundliche Worte mit Gene Simmons wechseln, aber ich hatte meinen Moment.
 
Wir lassen uns vom traumatisierten Strom derjenigen, die heim möchten, sanft zum Ausgang bugsieren. 
 
KISS

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