TOCOTRONIC / 18.06.2022 – Kiel, Freilichtbühne Krusenkoppel

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Achtung Laienbericht! Ich sag’s gleich: Bis vor kurzem kannte ich TOCOTRONIC nicht. Wie das sein kann? Das frage ich mich auch. Warum laufen manche Bands jahrzehntelang an einem vorbei? Ich könnte mich nicht erinnern, mich je bewusst gegen ein Anhören oder Mögen von TOCOTRONIC entschieden zu haben, geschweige denn überhaupt jemals mit der Musik konfrontiert gewesen zu sein. Bis ich im Oktober 2021 Urlaub in Chemnitz machte. Wandern mit Vattern in dessen Geburtsstadt, was man halt so in den Herbstferien macht. Natürlich bin ich in Chemnitz in einen Plattenladen gegangen (Underworld Recordstore, ein Besuch ist zu empfehlen) und eine Single mit großen Lettern erregte meine Aufmerksamkeit: „JUGEND OHNE GOTT GEGEN FASCHISMUS“. Die Assoziation zu Ödön von Horváths Buch „Jugend ohne Gott“ war das eine, die Beschränkung auf das Statement ohne Bandlogo das andere. So erntete ich das Teil ab (zusammen mit Platten von P.R.O.B.L.E.M.S., JETHRO TULL, SPIDERGAWD und AMYL AND THE SNIFFERS) und hörte es alsbald im Ferienhaus, auf welches ich selbstverständlich einen transportablen Plattenspieler mitgenommen hatte. Eine Woche, fünf Platten. Die 7“ rotierte häufig, der kryptisch, poetisch ansprechende Text und die fragil-schwebende Musik faszinieren mich bis jetzt. „Nie wieder Krieg“ wurde dann ebenfalls abgeerntet und so bin ich heute wohl einer der wenigen Besucher, der ausschließlich das aktuelle Album von TOCOTRONIC kennt, aber noch nichts vom Frühwerk.

 

TOCOTRONIC

Bilder von MJ

 

Erst mal meckern: Die Situation an den Getränkeständen und am Toilettenwagen geht mal gar nicht! Die Schlangenlänge ist absurd. Als wir das Ende erreichen, ist auch noch gerade das Faß alle. Den Support verpassen wir komplett. Es wird auch später nicht besser. Wer Bier holen will, verpasst einen fetten Teil des Konzertes. Es geht – und das ist keine Zuspitzung – schneller, ganz runter zur Kiellinie zu gehen, sich dort ein Bier zu holen und wieder zurückzulatschen! Katastrophe, Lille-Broi! Wir reden hier nicht von einer überforderten D.I.Y.-Konzertgruppe, sondern von einer ausverkauften Veranstaltung der Stadt Kiel. Da muss man doch abschätzen können, wie viel Personal, Getränke- und Toilettenwagen man braucht usw. Geil auch, dass niemand die Freilichtbühne mit mitgebrachten Getränken betreten darf. Mensch, lasst die Leute doch wenigstens mit ihren Bierdosen rein, wenn ihr nicht in der Lage seid, ihren Durst zu befriedigen!

 

TOCOTRONIC

Schlange vorm Bierstand WÄHREND des Konzerts... 

 

Naja, wir finden dennoch ganz gute Plätze, obwohl das Amphitheater schon knackvoll ist. Hinter uns fachsimpeln Leute über die neue JOURNEY-Platte und vergleichen die Qualitäten von Steve Perry und Arnel Pineda. Diese Open-Mindedness schätze ich. Tatsächlich ist das Publikum bunt gemischt, insgesamt Mainstream, aber doch auch viele alte Punks und Freaks in Kutten. Ich mag die Location ja sehr, der Sound ist meist superb und sehen kannst du auch von fast überall her gut. Die Bühne ist rot ausgeleuchtet und mit Kuschelplüschtieren drapiert. Zu meiner Freude geht es gleich mit drei Songs von der neuen Platte los, nämlich in der Album-Chronologie „Nie wieder Krieg“, „Komm mit in meine freie Welt“ und „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“. Was sind das bitte für Texte! „Unter dem Pflaster / Liegt nur der Sand / Von einem Fluch / Bin ich getrieben / In dunklen Gängen / Hab ich mich verrannt / Gejagt von meiner / Eigenen Hand“. Schluck. Vielleicht braucht man Lebenserfahrung, um das würdigen zu können. Vielleicht auch nicht. Sänger und Gitarrist Dirk von Lowtzow redet selbst dann in Alliterationen, wenn er seine Abscheu über den Krieg gegen die Ukraine und eben die „kleptokratische Clique“ äußert, die jeden zu verantworten habe. Zum dritten Titel fragt er uns, ob wir nicht „gegen Faschismus“ aufstehen möchten. Zack, ist das Eis gebrochen. Alle folgen dem Appell, wir beobachten begeistert, wie eine Bekannte von uns als Erste in den Bereich zwischen Bühne und Steinsitzplätzen springt und zu tanzen beginnt. Kurz darauf ist der Bereich voll mit einer wogenden Menge, was auch bis zum Schluss so bleibt. TOCOTRONIC rufen herrliche Gitarrensounds ab, lassen die Töne auf die Krusenkoppel perlen. Hängen bleiben bei mir gleich mehrere Songs, die ich ja alle zum ersten Mal höre, z.B. „Digital ist besser“, „Aber hier leben, nein danke“, „Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“, „Electric Guitar“, „Let There Be Rock“ und „Hi Freaks“. Bin interessiert daran, herauszufinden, wovon die jeweils handeln mögen, denn es wird sicher nicht immer das Offensichtliche sein.

 

TOCOTRONICTOCOTRONIC 

 

Zwei Side-Facts am Rande: Dirk von Lotzow hat ein Stück von der neuen KREATOR-Platte ins Deutsche übersetzt, „Become Immortal“ als „Werde unsterblich“, bisher blieb es unveröffentlicht, weil Mille wohl fand, dass es im Verbund mit dem Plattentitel zu viele deutsche Wörter sind. Und: Auf der neuen TOCOTRONIC-Platte spielt Friedrich Paravicini, der alte JENIGER-Recke, diverse Instrumente wie Tastenglockenspiel, Mellotron, Violine, Cello, diverse Synthies etc.

 

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Das wollte ich völlig zusammenhangslos mal loswerden. Aber zurück zum Konzert: Von der neuen Scheibe kommen mit „Hoffnung“, „Ich hasse es hier“ und „Ich tauche auf“ mindestens noch drei weitere Songs. Gerade letzteren finde ich sensationell, weil Musik und Text eine intensive, aber ungreifbare Sehnsucht vermitteln. Als der reguläre Block beendet ist, kommt es zu einem amüsanten Zwischenfall. Die Band kehrt zurück, von Lowtzow stellt die Musiker vor und beginnt mit Gitarrist Rick McPhail. Dieser nutzt die Chance, um eine Bitte ans Publikum zu richten: Ob er seine Setlist zurückbekommen könne. „Kannst meine haben. Stehen dieselben Songs drauf“, bietet Jan Müller (b) an. Doch McPhail erläutert, dass es ihm um die Songs gar nicht gehe. Vielmehr habe er seine Preamp-Einstellungen auf der Setlist notiert und müsste jetzt einigen Aufwand betreiben, um die jeweiligen Effekte richtig einzustellen. Und tatsächlich kommt schon eine Besucherin mit wehenden Haaren und der gesuchten Setliste in der Hand von den oberen Rängen gelaufen und überreicht das Dokument (natürlich bekommt sie Ersatz). Was für ein herrlich charmanter Konzertmoment, der viel über Band und Publikum aussagt!  

 

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So, over and out. Das war wohl mein einziger Kieler-Woche-Moment 2022, denn statt SEPULTURA locken mich eher EXCITER (Bambi). Bericht folgt.  

Kommentare   

+1 #2 Philipp 2022-06-24 10:55
Danke!
Klingt gut, mal sehen, ob wir das zeitlich schaffen.
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+2 #1 DoctorJoyBoyLove 2022-06-24 08:53
Interessanter Erlebnisbericht, auch wenn man wie ich wenig bis nichts mit Tocotronic anfangen kann.
Ich empfehle ansonsten noch WATAR aus meiner Nachbarschaft morgen (Samstag) um 21:30 auf der Jungen Bühne. Zumindest ne Limo bekommst du da relativ problemlos auf dem Platz und Taschenkontrollen gibt's auch nicht.
https://www.youtube.com/watch?v=POau1JXk6sU
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