FEHLFARBEN, JETZT - MICHAEL GIRKE / 15.10.2022 - Hamburg, Monkeys Music Club

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Jede Kunst zieht Arschlöcher an, FEHLFARBEN auch, selbst an so einem milden Herbstsamstagabend in einem lauschigen, mit 100-150 (bin kein guter Schätzer) Leuten gut gefüllten Club wie dem „Monkey‘s“ in der Barner Straße. Als meine Liebste die Zwischenrufe („Halt die Fresse!“, „ZUGABE! Har, har“) nicht mehr aushält, knöpft sie sich den bierseligen Fettsack vor, der alles gibt, um Michael Girke, dem Supportact, das Leben so schwer wie möglich zu machen. Und ich muß mit. Also, muß ich nicht, aber tu ich natürlich.
 
 
FEHLFARBEN
 
 
 
Er habe 30€ für Fehlfarben bezahlt und wolle „das nicht hören“. Alles klar, nur weil du mal 30€ bezahlt hast, kannst du jetzt ja auch deine eklige Sau rücksichtslos rauslassen. Solche Konsumfaschisten und Spaßtyrannen kann man ab. Wir sollen uns verpissen. „Nee, DU mußt dich verpissen, wenn dir die Musik nicht paßt. Oder den Mund halten“, schlage ich vor. Er verpisse sich, wenn ER das wolle, grunzt es aus ihm. „Ich verpiß mich auch nur, wenn ich es will“, kontert meine Frau, und ich erkläre ihm, daß er ein Wichser ist.
 
 
Danach nimmt zumindest die Frequenz seiner Störungen deutlich ab. Bevor Fehlfarben loslegen, begibt er sich in die Nähe der Bühne, und ich fasse den Plan, ihm eins der SM58-Mikrofone direkt in sein Gesicht zu ballern, sollte er mich jetzt, geboostet von Bier und verletztem Idi-Stolz, doch noch mal rachebesoffen angehen wollen. Von den Metallkörben, die die Kapsel schützen, blutet man wie Sau. An meine eine Niere denken muß ich auch und daran, daß du als gutaussehende Frau, wie die meine eine ist, in solchen Situationen von vornherein ein anderes Standing hast.
 
 
JETZT - Michael Girke
 
 
Und wäre Michael Girke ein musikalischer Nobody, ich müßte trotzdem kotzen bei solchen Konzertbesucher:innen. Ist er nicht und apropos „Nobody“: Blumfeld haben sein „Kommst du mit in den Alltag“ gecovert, das ich 2013 aus einem verwirrten Impuls heraus, den ich später unter Kontrolle bekam, auf unserer Hochzeit spielen wollte. Viel bedeutsamer als die peinliche Anekdote, die hieraus hätte werden können, ist Michael Girkes Einfluß auf diverse Musikschaffende der hiesigen „Schule“ - und so wundert es mich retrospektiv auch nicht, daß ich in seinem Gesang Jochen Distelmeyer höre. JETZT! heißt seine Band, von der es auf Tapete Records eine Compilation namens „Liebe in GROSSEN Städten 1984-1988“ (Jetzt!: "Liebe in großen Städten" - Album-Debüt mit dreißig Jahren Verspätung | deutschlandfunk.de) und 2 wesentlich aktuellere Studioalben gibt. Da werd ich mich mal kümmern.
 
 
Herrn Girkes Set ist kurz, sein Gestus beinah entschuldigend. Jemand beim Label hätte wohl gedacht, es sei eine gute Idee, Fehlfarben und ihn auf Tour zu schicken. Das hat er aus meiner Sicht gar nicht nötig, akzentuiert aber die große Wahrhaftigkeit seines Auftretens. Das Publikum sabbelt unbeirrt weiter, was mir unangenehm ist, zumal ich die Begegnung mit dem Störer emotional noch am Verarbeiten bin. Ca. 5 ernsthafte, unironische, schöne Songs, danach ist es vorbei.
 
 
FEHLFARBEN
 
 
Peter Hein ist der Chefidiosynkratiker vor dem Herrn. Ich werde es während des Auftritts seiner Band zwar immer wieder schaffen, ihn mal nicht anzuglotzen, aber am Ende ihn dann doch wieder anglotzen.
 
 
Beziehungsweise das offensichtliche Glotzen zu vermeiden suchen, denn man hat ja noch Würde. Zuschauen! Keiner steht so nah bei Peter Hein wie ich!
Aber das seit 2016 stabile Line-Up wartet ja noch mit anderen Legenden auf: Kurt „Pyrolator“ Dahlke und a certain Frank Fenstermacher sind AtaTak-Labelmitbegründer, DAF-Gründungsmitglieder und Künstler von Weltrang aus eigenem Stand mit ellenlangen und brustbreiten Katalogen.
 
 
Das Gitarren-chug-chug-chug-chug, mit dem Fehlfarbens vor 2 Tagen erschienenes neues Album und dieses Konzert beginnen, erinnert sicher nicht aus Zufall an „Paul ist tot“, den legendären Song des legendären Debüts, von dem sie gegen Ende eine ultra-intensive Version mit Wahnsinnssolo von Thomas Schneider bringen werden. Aber zuerst gibt‘s viel von „?0??“, und das ist gut so: Auf der Hinfahrt zuerst „?0??“, dann direkt hinterher „Monarchie und Alltag“ angehabt und festgestellt, daß es von diesem zu jenem eigentlich bruchlos weitergeht, auch wenn da 40 Jahre zwischen liegen.
 
 
FEHLFARBENFEHLFARBEN
 
 
In Anspielung auf die positive Resonanz aus Presse, Funk und Fernsehen verkündet Hein, daß die neue Fehlfarben „die beste Platte seit UNS SELBST!!“ sei, wohl wissend, daß solche Ratings Schwachsinn sind. „Ratings“, fast wie „Ratinger Hof“! (glucks)
 
 
Später wird er einräumen, daß „wir“ ja vor allem wegen dem „alten Scheiß“ zum Konzert kommen, und ich finde mich irgendwo dazwischen wieder, kann jedem FeFa-Album mit Hein was abgewinnen und habe sowieso eine Abneigung gegen chronische Nurdie1.Plattegutfinder. Neige vielleicht auch zur Kritik-Anämie, was weiß ich.
 
 
Das dubbige „Stolz“ ragt heraus. „Stolz? Was solls? Geh scheißen mit deinem Stolz!“ singt Hein eskalierend im Chorus, und dafür gibt es Szenenapplaus. Applaus von der Szene sozusagen. Ist ja auch ok, mir ein wenig zu cozy aber ok. „Unten braun und oben grün“ ist eine meiner Lieblingszeilen über politsoziologische Verflechtungen im 21. Jahrhundert. Man findet sie in „Ich kann es kaum erwarten“, das Fehlfarben heute nicht spielen werden. Und „wir“ seien halt auch „scheiße“, sagt Peter Hein, nachdem der letzte Ton des Songs verklungen ist, nur eben „besser scheiße“, und das kommt der Wahrheit vielleicht näher als irgendein befriedetes, codeproofes, sich gegenseitig hätschelndes Buddybullerby. Heins Texte und der ganze Background dieser Band haben mehr Kunst in sich als mein/dein Positionsgedröhne, und diese Unabhängigkeit, dieses nicht Voreinenkarrengespannte oder Seinepferdelenkende erinnert zumindest mich eher an Dylan als an 100 Bands, die ich nicht wirklich kenne, aber was ich von ihnen aufgeschnappt habe, reicht mir. P.S.: Wann kommt der Erste, der „herausfindet“, daß „Militürk“ fremdenfeindlich sei mit seiner Istanbul-Tröte?
 
 
2017 haben sie im/„auf“ Kampnagel gespielt. Es war die Tour zum remixten und remasterten „Monarchie & Alltag“-Reissue, bzgl. dessen mir Thomas Schwebel, der seinerzeit schon 9 Jahre lang kein FeFa-Mitglied mehr war, die Album-Aufführung aber mitmachte, versicherte, es würde wirklich ganz gut klingen. Da geh ich mit. Den 2000er Remix sollte man meiden.
 
 
FEHLFARBENFEHLFARBEN
 
 
Nach „Paul ist tot“ verließ Schwebel die Bühne, und Fehlfarben spielten noch etwa 1 Stunde lang neueres Material. Ich erinnere mich, wie Thomas Schneider beim Plattensignieren den Umstand beklagte, daß die Band mit einem Gitarristen weniger plötzlich so dünn geklungen und ihn das verunsichert hätte. Heute weiß er bei „Tanzen auf der Straße“ bald nicht mehr, ob er im richtigen Song ist, denn eine Hälfte der Band spielt „Kontrollorgan“. Sowas hab ich auch noch nicht erlebt, ein spontanes, ungewolltes und mit einem heiteren kollektiven Handtuchwurf endendes Mash-Up. Ich weiß das, weil Pyrolator es mir beim HEUTIGEN Plattensignieren steckt. Ich habe sogar extra den roten Edding aus dem Faulenzer geholt, weil rot so gut zum Coverdesign der neuen Scheibe paßt, wie (besser) scheiße ist das denn?
 
 
Damals, vor (5) Jahren, war es super, aber heute ist es noch besser: Spielfreude allenthalben, reichlich Blickkontakt, Lachen und Grimassen, und Heins Luftgitarrenmimikry, mit dem er sich an den einschlägigen Stellen zu Thomas Schneider stellt, ist fein austariert zwischen Ironie und praising. In den Jahren zwischen '17 und heute wäre man auch mal im „Uebel & Gefährlich“ gewesen, aber da hätte es nicht hingehauen (wieso auch immer), erzählt Pyrolator achselzuckend.
 
 
Nach der „Kontrollorgan“/„Tanzen auf der Straße“-Panne verliert das Konzert kurz ein wenig an Momentum, aber mit „Politdisko“ vom 2007er Album „Handbuch für die Welt“ fangen sich Fehlfarben wieder: „Es mag ja wirklich schlimm sein / Und es tut mir vielleicht leid/ Aber zum richtig gut sein / Da hab ich keine Zeit“ geht der Text im Refrain, und ohne hier jetzt rummenscheln oder gar das Klischee des „LIVE“ bemühen zu wollen - DAS paßt gerade wie Mikrofon in Kauleiste! Links von mir, in der ersten Reihe fangen die Frauen das Tanzen wieder an, und meine Überzeugung ist nach wie vor, daß etwas richtig läuft, wenn Frauen vor der Bühne tanzen. Keine weiteren männlichen Punkrock-Reenactments mehr heute Abend, und nach dem endgültig letzten Song „Innenstadtfront“ (ein MITTAGSPAUSE-Reenactment!) gehe ich glücklich mit meiner zweiten vollgekritzelten Fehlfarben-Platte zum Auto, zusammen mit meiner Frau, vor der sich jeder egomane Asi in Acht nehmen sollte.
 
 
FEHLFARBEN
 
 

Kommentare   

+1 #1 Kai I. 2022-10-21 17:36
Mit dem Kerl habe ich mich auch gekabbelt. Schluß war erst, als ich ihm anbot, das "draußen zu klären". Da war die große Klappe plötzlich ganz klein.
Michael Girke hatte mMn auch deshalb einen schweren Stand, weil die Akustik für seinen Gig einfach völlig unzureichend eingestellt war. Man konnte auch dann kaum etwas hören, wenn kein Asi dazwischen brüllte. Das hätte man doch wenigstens besser machen können!
Die neuen Songs wurden nach meinem Eindruck ganz ungewöhnlich gut aufgenommen, nur nach "Nachhaltig" setzte starkem Applaus folgend auch lautes Raunen ein, und man sah viele Fragezeichen in den Gesichtern. Ja, wie meinen die denn das? "Stolz?" holte diejenigen, die jener Text vielleicht etwas zuviel abverlangte, wieder zurück.
IMHO hätten FeFa auch das komplette neue Album spielen können, das geht sowas von nach vorne wie seit M&A nicht mehr. Ist aber OK, das allgemeine Publikum soll sich ruhig noch ein bißchen eingewöhnen, siehe "Nachhaltig".
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