Kai & Funky von TON STEINE SCHERBEN mit Gymmick, THE INCONSPICUOUS / 20.01.2023 – Kiel, Pumpe

3 Dislike0

Obwohl mich die Musik von TON STEINE SCHERBEN schon mein „gesamtes Leben", also seit Anbeginn meiner musikalischen Sozialisation, begleitet, habe ich bisher kein Konzert von Ex-SCHERBEN-Musikern gesehen. Das ist schon verrückt, denn Rio Reiser beispielsweise hätte ich mir ja in den 80ern oder 90ern ansehen können. Bis Mai 1996 hat Reiser schließlich Konzerte gegeben, aber ich glaube, dass ich seine Musik zu dieser Zeit nicht als relevant empfand. Auch andere Projekte von SCHERBEN-Leuten wie NEUES GLAS AUS ALTEN SCHERBEN oder TON STEINE SCHERBEN FAMILY gingen an mir vorbei. Zum Glück weckte Jörg Röschmanns Bericht hier auf DreMu über das 2021er Konzert von Kai & Funky von TON STEINE SCHERBEN mit Gymmick im Rahmen der „50 Jahre TON STEINE SCHERBEN“ aber mein Interesse. Jörg verweist u.a. auf die Qualitäten des Sängers Gymmick, der mit „verzweifelter Wut“ in der Stimme den SCHERBEN „die Straße zurückgegeben“ habe. Die ca. achtjährige Zusammenarbeit von Kai & Funky mit Gymmick endet allerdings genau mit der aktuellen Tour, somit ergreifen wir heute eine der letzten Gelegenheiten und bewegen unsere Ärsche in die Pumpe. Denn: Der Kampf ist nicht vorbei!

 

TON STEINE SCHERBEN

Bilder von MJ. 

 

Hui, spielten Kai & Funky von TON STEINE SCHERBEN mit Gymmick bisher mehrfach in der Hansa 48, so hat man für den heutigen Auftritt doch glatt den großen Saal der Pumpe gewählt. 450 Karten gingen allein im VVK weg, sodass man von einem deutlichen Anstieg des Publikumsinteresses sprechen muss. Liegt es an der Tatsache, dass sich die Qualität der Konzerte herumgesprochen hat? Vielleicht auch daran, dass man diese Besetzung wohl nicht wieder sehen können wird. Erfreulich ist es auf jeden Fall. Auffällig ist auch, dass die Besucher:innen aus verschiedensten Altersgruppen kommen, was ich ebenfalls toll finde. Dass Zwanzigjährige textsicher mitsingen können, unterstreicht die Zeitlosigkeit und Bedeutung der SCHERBEN-Texte.

 

THE INCONSPICUOUSTHE INCONSPICUOUS 

 

Zunächst gibt’s eine Vorband, und zwar THE INCONSPICUOUS aus Berlin. Nun, ich denke in Sachen Musik ja wie ein Physiker und sage: Das Glas ist immer voll! Aber manchmal halt nur mit Luft. So verhält es sich bei dieser Band nun auch nicht, ihr Indie-/Garagerock lässt mich immerhin mitwippen, gedanklich bin ich aber schon beim SCHERBEN-Konzert und einfach zu gespannt, um mich richtig auf die Band konzentrieren zu können.

 

TON STEINE SCHERBENTON STEINE SCHERBEN 

 

Die erste Gänsehaut bekomme ich bereits, bevor Kai Sichtermann, Funky K. Götzner und Gymmick überhaupt den ersten Ton spielen. Denn vom Band ertönt als Intro ein alter SCHERBEN-Song mit Rio. Schöne Geste. Richtig los geht es dann mit „Mein Name ist Mensch“ und sofort gebe ich Jörg in Gedanken Recht: Gymmicks Stimme passt verblüffend gut zu TON STEINE SCHERBEN-Songs. Ohne dass er Rio Reiser plump nachmachen würde, erfüllt er die Stücke mit Leidenschaft, Wut und, ja, Liebe. Die Stimme an sich ist etwas tiefer und rauchiger, so „als hätte Rio Reiser vorm Gig zehn Schnäpse getrunken“, wie Strecki neben mir urteilt. Was mich genau so doll umhaut, sind aber die Texte. Ich höre die SCHERBEN natürlich immer mal zu Hause (hab mir diese Box gegönnt, die vor einigen Jahren erschien und das Gesamtwerk zusammenfasst), aber live spürt man die Botschaft noch eindringlicher. „Ich habe viele Väter, ich habe viele Mütter / Und ich habe viele Schwestern und ich habe viele Brüder / Meine Väter sind schwarz und meine Mütter sind gelb / Meine Brüder sind rot und meine Schwestern sind hell / Ich bin über zehntausend Jahre alt und mein Name ist Mensch…“ Ähnlich ergreifend folgt etwas später „Schritt für Schritt ins Paradies“.

 

TON STEINE SCHERBEN

 

Der Klang gefällt mir sehr gut -  auch wenn es „nur“ Bass, Akustikgitarre, Cajón, Stimme und zum Teil Piano gibt, wird eine äußerst intensive Energie erzeugt. Klingt erstaunlich fett und wuchtig. Es werden nicht nur SCHERBEN-Stücke gespielt, sondern auch Songs aus der Solophase von RIO REISER. Interessant ist dabei, dass „König von Deutschland“ laut Kai Sichtermann tatsächlich bereits 1976 von den SCHERBEN komponiert worden sei. Die Band habe ihn damals aber fallenlassen, weil er nicht zum Zeitgeist gepasst habe. Wusste ich gar nicht. Die Stimmung wird trotz der Menge an Leuten (ab 300 kommen bekanntlich die Arschlöcher) regelrecht intim. Viele tauen mit der Zeit auf und singen mit, beeindruckt bin ich bei „Halt dich an deiner Liebe fest“ von zweistimmig gesungen Passagen (aus dem Publikum wohlgemerkt). Was für ein schönes Lied aber auch, welches von Selbstermächtigung in einsamen Zeiten erzählt. Kloß im Hals! Immer wieder recken sich natürlich auch die Fäuste in die Höhe, etwa wenn „Mensch Meier“, „Der Turm stürzt ein“, „Das Einheitsfrontlied“ oder „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ gezockt werden. Gymmick ist mitnichten einfach nur ein „Gastsänger“, er hat in seiner Zeit mit Kai und Funky auch das Album „Radio Für Millionen“ aufgenommen, auf dem neue Songs zu finden sind, aber auch ausgearbeitete, noch mit Reiser entstandene Fragmente. Davon befinden sich heute einige in der Setlist und vor allem das neue „Am Jenseits“ und die Gymmick-Komposition „Wenn du schön wohnst“ überzeugen mich derart, dass ich die Doppel-CD später abernte. Letzterer Text knüpft an SCHERBEN-Themen an, indem er von wohnungslosen Menschen handelt.

 

TON STEINE SCHERBENTON STEINE SCHERBEN

 

Ein weiterer Höhepunkt ist der Gastauftritt von Roadmanagerin und Mercherin Kidd Viciouz (sonst auch bei NOT THE ONES), die zunächst den Klassiker „Ich will nicht werden, was mein Alter ist“ singt. Witzigerweise auf Englisch, aber das passt durchaus, könnte dieses Stück schließlich auch von einer 77er Punkband stammen. Kidd Viciouz bleibt auf der Bühne und schmettert in Form von „Wir müssen hier raus!“ einen weiteren meiner Favoriten. Auch ohne die Sängerin behalten TON STEINE SCHERBEN jetzt den Furor bei, es folgen u.a. „Alles Lüge“, „Menschenfresser“, „Die letzte Schlacht“, „Keine Macht für niemand“, „Rauch Haus-Song“, „Der Traum ist aus“ und „Junimond“. Wow, ich glaube, insgesamt waren das über 25 Stücke, wobei es zwischendurch eine kurze Pause gab!

 

TON STEINE SCHERBENTON STEINE SCHERBEN 

 

Ich bin sehr froh, dieses Konzert besucht zu haben. Das Trio (bzw. phasenweise Quartett) zeigte sich extrem abwechslungsreich und hat die SCHERBEN-Klassiker würdig und mit Feuer präsentiert. Es ist schade, dass Gymmick, der übrigens auch als Karikaturist arbeitet, bald nicht mehr dabei ist Noch folgen Auftritte in Bonn, Koblenz, Soest und Wuppertal. Vielleicht sieht man Gymmick ja mal mit einer anderen Band? Kai und Funky planen bereits etwas Neues, sind sie doch im Juni 2023 mit der Sängerin Birte Volta für einen Auftritt im Hamburger Logo angekündigt. Hm, Volta, das klingt doch recht vielversprechend…

 

TON STEINE SCHERBEN

Bewertung: 5 / 5

Stern aktivStern aktivStern aktivStern aktivStern aktiv