INTERVIEW MIT INGO SCHEEL ZUR VERÖFFENTLICHUNG SEINES BUCHES „SCHLUSSAKKORD“
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- Kategorie: Interviews
- Veröffentlicht: Montag, 28. Oktober 2024 20:43
- Geschrieben von Philipp Wolter
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„Das führt soweit, dass man irgendwann auf einem schwedischen Wetter-Blog landet, um herauszufinden, wie das Wetter in Dörarp nun wirklich war, am Tag, als Cliff Burton starb.“
Ingo Scheel hat sein erstes Buch „Schlussakkord“ veröffentlicht (Ventil Verlag). Natürlich geht es um Musik. Aber wo man sich sonst bei Werken über musikalische Ikonen mit deren Leben beschäftigt, findet der Autor einen ganz anderen Ansatz: „Wie Musiklegenden für immer verstummten“. Der Klappentext beschreibt das Buch als Mischung „aus True Crime, Pop Art und Literatur“. Das trifft es recht gut, sterben die ausgewählten Protagonist:innen überraschenderweise nicht an Altersschwäche. Attentate, Unfälle, Flugzeugabstürze, Drogen, Morde, Suizide, Krankheiten, völlig ungeklärte oder bis heute umstrittene Ursachen werden in mitreißender und gleichzeitig sensibler Form unter die Lupe genommen. Und letztlich setzt man sich doch mit dem Leben bzw. dem Werk der Verstorbenen auseinander und entdeckt neue Musik oder hört bekannte Platten mit anderen Ohren. Am 08.11.2024 wird Ingo Scheel im Kieler Kulturforum aus „Schlussakkord“ vorlesen. Aber heute schnacken wir erst mal hier auf DreMu mit ihm.
Credits:
Illustrationen: Oliver Schmitt, Foto: Bernd Jonkmanns
Moin Ingo, viele DreMu-Leser :innen kennen dich vielleicht eher von deinen Bands wie ARMSTRONG oder PANICBURG CITY. Wie bist du in den Journalismus gekommen, für welche Zeitschriften schriebst und schreibst du?
Ich dachte lange Zeit, ich wäre da einfach so hineingeraten. Auf einer Ehemaligenseite vom Hans-Geiger-Gymnasium, wo ich 1986 mein Abitur mit Ach und Krach geschafft habe, kursierte jedoch eine Namensliste meines Jahrgangs, in der man auch seinen Berufswunsch angegeben konnte. Dort hatte ich tatsächlich „Journalist“ eingetragen, was mich im Nachhinein überrascht, da ich die Zeit damals als eine der partiellen Desorientierung in puncto Lebensziele empfunden hatte. Nach einer Ausbildung zum Werbekaufmann, währenddessen ich meinen sogenannten ‚Junior Texter’gemacht habe, tat ich Mitte der 90er bei den „Kieler Nachrichten“ meine ersten Schritte als Schreiber, kurz darauf auch fürs „Stadtmagazin Kiel“ und die „Hamburger Rundschau“. Ich arbeitete zu der Zeit als Texter und Konzeptioner in einer Kieler Agentur für Rundfunkwerbung, mein Kollege und guter Freund Niko Brügmann, Drummer bei Superpanzer und viel zu früh verstorben, empfahl ich mich den Redaktionen, das war definitiv ein lebensentscheidendes Schlüsselerlebnis. Mein erster KN-Artikel bot klassischen Lokaljournalismus. Vor der McDonald’s-Filiale im CAP konnten Leute in Sumo-Ringer-Kostüme schlüpfen und sich kämpfenderweise zum Horst machen, darüber hatte ich zu berichten. Nach einigen ähnlich gelagerten Stories wurde ich in den Schreiberkreis der „Kieler Szenen“ aufgenommen. Das lief bis zu meinem Umzug nach Hamburg 1999 und hat durchweg Bock gebracht, über alles von größeren Acts bis zu jeder Menge Kieler Bands habe ich geschrieben. Mein erster „Stadtmagazin“-Artikel war eine Konzertankündigung für Biohazard im MAX. Ich weiß sogar noch die Headline: „Prollitically Correct“. Mein erstes Interview fürs „Stadtmagazin“ führte ich mit Johan Edlund, backstage im MAX nach dem Tiamat-Konzert. Edlund war in Quatschlaune, der redete und redete und redete. Heute schreibe ich für eine ziemlich große Palette an Medien: Visions, Mint, Galore, Stern, Hamburger Morgenpost, ntv.de, musikexpress, Crime … da kommt eine Menge zusammen. Ich mag die Bandbreite von Musikthemen über „Tatort“-Rezis bis zu Filmkritiken und Werkstatt-Gesprächen. Kürzlich habe ich binnen zwei Wochen mit Dale Crover, Jerry Cantrell, Nana Mouskouri und Nicole gesprochen, da wird’s nie langweilig.
Ist das Autorendasein so aufregend wie die Anfänge als Musiker?
Aufregend schon, aber anders. Es ging und geht beim Schreiben ja zumeist darum, Rock’n’Roll, um es mal plakativ zu sagen, und Fakten miteinander in Einklang zu bringen. Ein guter Song entsteht ja oftmals in einem bestimmten Zustand, mit einer gewissen Zufuhr an Dosenbier und ähnlichen Substanzen. Beim Schreiben ist es grundsätzlich besser, einen klaren Kopf zu bewahren, auch wenn das Sujet natürlich eines ist, das man Zeit seines Lebens mit emotionalen Ausnahmezuständen in Verbindung bringt. Was sehr ähnlich ist: dieses Gefühl, wenn ein Song irgendwie hinzuhauen scheint, und jenes, wenn man einen schönen Artikel, ein cooles Interview oder eine treffende Rezi zu Papier gebracht. Ich mach ja auch noch Radio, „Flashback“ bei ByteFM, da kommt beides ebenfalls zusammen, aber auch da gilt: Entspannender Belohnungshopfen erst, nachdem man geliefert hat. Um auf die Frage zurückzukommen: Die Aufregung variiert, bietet definitiv aber auch einiges an Parallelen.
Hast du Lampenfieber bei Lesungen? So nach dem Motto „Kommen Leute oder muss ich vor drei Leuten lesen“?
Was Lesungen angeht, verfüge ich noch nicht über allzuviel Erfahrung. Eine „Schlussakkord“-Lesung bislang, kurz nach Buch-Release im Hamburger „Nachtasyl“, da konnte man mein Lampenfieber mit einer Fuchsschwanz-Säge in Scheiben schneiden, so präsent war es. Völlige Zerrüttung innerlich, Weglauf-Reflex, Schwindel, richtig schlimm. Mit Bands habe ich über die Jahre soviel erlebt, aber in dem Moment, da nur dein Name auf dem Buch, später auf dem Ticket steht, ist es ein völlig anderer Deal. Allein backstage, stilles Wasser, Salbeibonbons, Manuskript durchgehen….im Ernst: Das ist no Fun. Dann läuft das Intro und man steht hinter der Stagedoor, völlig auf sich zurückgefallen…kaum zu beschreiben, so hardcore ist das. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte es mehr genießen, den Moment als solchen erleben. Wenn alles vorbei ist, denkt man: Alter, warum zur Hölle hast du dir das Hirn zermartert? Ist doch alles top gelaufen, aber das kennen wohl viele Kreative. Im Gegensatz dazu habe ich neulich bei „Lost in Music“ gelesen, eine Musik&Literatur-Veranstaltung, einen selbst übersetzten, sehr unterhaltsamen Text des englischen Musikjournalisten Alan Jones über das Punkfestival 1977 in Mont de Marsan, da war ich so dermaßen entspannt, vorher, dabei, danach. Ein Traum. Mal schauen, wie es im Kulturforum wird, ich hoffe, dass ich auf diese beiden Erfahrungen bauen kann. Und mal ehrlich: Am Ende ist es „Vorlesen“, es ist kein Progrock mit Taktverschiebungen, Drumsolo und 25 Parts, die man alle kennen muss. Es ist mein Buch, ich les daraus vor. Eigentlich halb so wild. Eigentlich. Was das Publikum angeht, ist ein voller Saal natürlich immer am besten, aber wir hatten bei Empire, bei Armstrong, immer schon die Maxime: Es wird geliefert, auch wenn da „nur“ drei Kumpels vor der Bühne stehen.
Und nun das erste Buch „Schlussakkord“! Glückwunsch zur Veröffentlichung! Ich finde es ja erst mal faszinierend, dass vorher noch niemand auf die vermeintlich so offensichtliche Idee gekommen ist, Geschichten über den Tod musikalischer Ikonen zusammenzutragen. Tod und Rock- bzw. Popmusik gehören ja eigentlich untrennbar zusammen. Kannst du etwas zur Genese des Buches sagen?
Ursprünglich war es eine Podcast-Idee. Bei Tapete Records habe ich mit Carsten und Gunther von der Liga der gewöhnlichen Gentlemen, zudem auch Macher des Hamburger Labels, Gereon Klug und Wiebke Colmorgen beim Brainstorming zusammengesessen. Das „Schlussakkord“-Konzept landete aus Mangel an Zeit in der Schublade. Als Tapete mit dem Ventil Verlag fusionierte, kam die Idee wieder auf. Gunther und ich hatten parallel den Gedanken, dass es eigentlich ein schmuckes Buch werden könnte. Dann ging es mit erstem Treatment und Verlagsvertrag ziemlich fix. Blieb „nur“ noch das Schreiben. Das habe ich dann parallel zum Tagesgeschäft durchgezogen, was zuweilen echt herausfordernd war, Stichwort Workload, gleichzeitig hat es riesigen Spaß gemacht. Am Ende ein eigenes Buch in Händen zu halten, das ist und bleibt etwas Besonderes. Oldschool, klar, vielleicht deswegen auch so erhebend. Was das Thema angeht, gibt es da schon einige Vorgänger, mein geschätzter Kollege Ernst Hofacker hat 2019 das Buch „Live fast, love hard and die young“ bei Reclam veröffentlicht, auch toller Stoff. Jetzt mit dem „Schlussakkord“ hat es irgendwie gepasst, das Artwork, der Titel, die Stories. Die Kritiken waren fast durchweg positiv, das hat mich doch ziemlich umgehauen.
Schwierig stelle ich mir bei dem Thema die Komplexe Auswahl und Begrenzung vor. Wie bist du da vorgegangen? Gab es ein paar Geschichten, die du unbedingt erzählen wolltest, die vielleicht den Ausgangspunkt bildeten?
Da haben wir es uns pragmatisch einfach gemacht. Eine lange Liste mit locker 60 Namen aufgestellt, davon 30 extrahiert und festgelegt. Wichtig war mir beim Mix, dass diverse Big Names auftauchen, Cobain, Lennon, Winehouse, Hendrix, Joplin, demgegenüber aber auch die nicht ganz so geläufigen Schicksale. Alexandra natürlich, die ich nicht nur sehr gern höre, sondern die auch Teil der Kieler Musikgeschichte ist, demgegenüber ein Ekelpaket wie GG Allin, und Leute, die ich getroffen habe, wie zum Beispiel Scott Weiland. Am Ende gibt es nicht die eine Lösung, der Gesamteindruck muss stimmen, so ein bisschen wie bei „Haribo Colorado“: Jeder hat seine Favoriten, aber die Mischung sollen möglichst alle gut finden.
Und kamen weitere eher zufällig im Recherche- und Schreibprozess hinzu?
Nein, das hätte zuviele Baustellen aufgemacht, denk ich. An einem bestimmten Punkt muss es heißen: Darum geht es. Die sind es. Und jetzt wird losgetackert.
Gab es andererseits auch Todesfälle, die medial schon derart durchgekaut waren, dass du davon Abstand genommen hast?
Nein, im Gegenteil, siehe Big Names, klar sind diverse schon öfter abgehandelt worden, einige bis zum sprichwörtlichen Augenstillstand. Mein Ansatz war grundsätzlich: Wie erzähle ich die Geschichte? Wo ist mein Fokus? Wie ist mein Tonfall? Gibt es Aspekte, die in der Vergangenheit noch nicht abgeklopft wurden, oder womöglich etwas Neues? Ich muss da an diese Matroschka-Puppen denken, die man aufmacht und immer wieder kommt eine weitere zum Vorschein. Ich habe versucht, immer nochmal eine aufzumachen und zu schauen: Steckt da noch eine winzige Kleinigkeit drin, die man hervorholen könnte? Das klappt nicht immer, ist als Motor des Ganzen aber wirklich inspirierend. Das führt soweit, dass man irgendwann auf einem schwedischen Wetter-Blog landet, um herauszufinden, wie das Wetter in Dörarp nun wirklich war, am Tag, als Cliff Burton starb.
Stilistisch bleibst du ja meist eher neutral und verzichtest weitgehend auf deine Erlebnisse mit der Musik der jeweiligen Ikonen. Manchmal brechen sich aber doch Äußerungen Bahn, die Rückschlüsse zulassen, z.B. bei Jim Morrison. Kannst du generell die Kunst vom Künstler trennen?
Ich habe am Anfang ein wenig gebraucht, um den für mich passenden Ton zu finden. Letztlich wollte ich es nicht durch meinen persönlichen Filter erzählen, gleichzeitig habe ich doch schon so einiges erlebt, um es mal platt zu sagen. Das völlig außen vor zu lassen, erschien mir verschenkt. Dennoch sollte es keine Ich-Erzähler-Nummer werden. Letztlich setze ich einen bestimmten Ton mit dem Vorwort, bei Leuten wie Cliff Burton schimmert es nochmal durch, am Ende schließt sich der Kreis mit der sehr persönlichen Geschichte über Scott Weiland, das fand ich rund. Es gab kritische Stimmen, denen das schon zu viel Ego war, an anderer Stelle hieß es, ach, davon hätte man gern mehr gelesen. Alles Geschmackssache.
Im Kapitel über Scott Weiland wirst du persönlicher, sagst du. War das von Anfang an Teil deines Konzepts für den Schluss?
Nein, eher nicht, an der Stelle schien es fast so, als hätte das Buch selbst die Dramaturgie übernommen. Ich habe ja diese Cliffhanger am Ende der Kapitel geschrieben. Von Bob Marley zu Nico zu Scott Weiland … das war am Ende nicht im geringsten offenkundig, dennoch gab es da plötzlich Verbindungsstücke. Mit Scott ergab sich die Möglichkeit, das Persönliche des Anfangs am Schluss des Buches wieder aufzunehmen, das fühlte sich irgendwie natürlich an, als gehöre es genau dort hin.
Gab es besonders emotionale Momente bei der Arbeit an dem Buch? Ich kann mich zum Beispiel noch wie heute daran erinnern, als die Nachricht vom Tod Cliff Burtons im Radio kam, wenige Tage bevor METALLICA in Hamburg spielen sollten. Wie schmerzhaft war die Beschäftigung mit dem Tod geliebter Legenden?
Das war zuweilen tatsächlich schmerzhaft. Mal war es die schiere Masse an Tod und Tragik, die mir dann und wann zusetzte. An anderer Stelle, genau wie du es sagst, der persönliche Aspekt. Lieblingskünstler:innen, die man immer noch betrauert, diese Schicksalswendungen, bei denen man denkt, Alter, hättest du an diesem einen Abend doch die eine Flasche stehen lassen. Und natürlich, siehe Scott, Menschen, deren Musik ich schätze, denen ich persönlich begegnet bin und teilweise sehr detaillierte Erinnerungen daran habe. Scotts magerer Rücken, seine Galosche, seine Herzlichkeit, das spüre ich, als wäre es letzte Woche gewesen. Im zweiten Teil wird es ein Kapitel über Mark Lanegan geben, da ist es ähnlich. Einige Monate vor seinem Tod haben wir noch telefoniert. Wenn ich mir den Mitschnitt jetzt nochmal anhöre, ist das schon tough. „Take care, my friend“, brummt er mit seiner Brummstimme zum Abschied. Da hab’ ich einen schweren Kloß im Hals.
Gab es seitens des Verlages bestimmte Vorgaben? Der legt ja bestimmt Wert auf ein gewisses Level an Unterhaltung.
Da gab es bei den ersten Kapitel-Manuskripten genau die Diskussion: Welche Richtung, wie persönlich, wie faktisch, wie farbenreich soll es erzählt werden. Als wir das einigermaßen klar umrissen hatten, konnte es losgehen. Das nahm sehr schnell Fahrt auf. Intensiv ist dann die Lektoratsphase, wo es nochmal richtig ans Eingemachte geht, aber das ist der Deal und hat auch wirklich gut funktioniert. Klare Kommunikation ist die Grundlage von allem, mir es ist zudem wichtig, dass es knick-knack geht. Zügig entscheiden – und weiter durchziehen.
Das Artwork ist sehr stimmig geworden. Kannst du uns noch etwas zur Entstehung des Buchcovers und der Illustrationen erzählen?
Beim Cover schwebte uns eine ganze plakative Verbindung von Tod und Musik vor, also etwas völlig Naheliegendes, irgendwann sind wir auf dieses Motiv gekommen. Auf den ersten Entwurf guckten wir drauf, das klickte sofort, jeder sagte: Das isses. Wenn ich es jetzt so ansehe, denk ich: die richtige Entscheidung, so schlicht wie einprägsam. Die Illus hat Oliver Schmitt vom Ventil Verlag gemacht. Da war es ähnlich. Wir hatten überlegt, wie wir die Kapitelfolge auflockern könnten, auch da sollte etwas Prägnantes passieren, das sich dennoch gut einfügt. Oli meinte, er würde mal ein paar Motive malen. Als er die durchschickte, waren wir baff und sagten: Mehr davon, total cool, genau so ist es klasse. An dieser Stelle nochmal ein ganz großes Dankeschön an Oli, der für den Abdruck des Kapitels über Nick Drake im Mint Magazin sogar noch ein exklusives Motiv gestaltet hat.
Die Frage muss sein: Wird es Teil 2 geben?
Da es vom Verlag und vom Label keine Stillschweigeklausel oder ähnliches gibt, sage ich es einfach mal klipp und klar: Ja, wird es, geplanter VÖ-Termin ist Frühjahr 2026, da freu ich mich schon sehr drauf. Ansonsten gibt es da noch einige Buchprojekte. Gerade ist „Rio Reiser – Ich will ich sein“ im Ventil-Verlag erschienen, da durfte ich ein Kapitel beisteuern. Zudem will ich in 2025 endlich die zweiten 180 Seiten einer Art Autobiografie komplettieren, und es sind noch ein paar weitere Sachen in der Pipeline.
Noch mal weg vom Buch und hin zum Thema Musikjournalist: Welches INTERVIEW war das SCHRÄGSTE EVER?
Oh, gute Frage. Von den Leningrad Cowboys, backstage in der Traumfabrik, zum Wodka-Trinken genötigt zu werden, war definitiv skurril. Legendär eines mit Patrick Nuo während meiner AOL-Zeit, der eine Publikumsfrage auf der Popkomm 2003, wo ich damals live moderierte, nach seinen drei Lieblingtieren beantwortete mit: „Delphin. Eichhörnchen. Das dritte hab ich vergessen“. Jeanette Biedermann, die ein Exploited-Tshirt trug und meine dispektierliche Frage, ob sie die überhaupt kennen würde, mit ihren Lieblingssongs beantwortete und mich, völlig zurecht, auf nette Art zusammenfaltete. Zu Herzen gehend war es mit Fat Mike alias Cokie The Clown, der mir am Telefon heftigste Familienerlebnisse schilderte und anfing zu weinen. Lustig das mit den Desecendents, bei dem Bill Stevenson zu Beginn ungläubig fragt, ob Milo und ich uns vorher abgesprochen hätten - wir beide in Hüsker Dü-Tshirts! Umgekehrt als Interviewer eines der skurrilsten überhaupt, als Volker Riepenhausen und ich beim Chef eines legendären Kieler Veranstaltungsblattes zu Gast waren, um über unsere damalige Band, The Empire Freak Shop, zu sprechen – und der Mann die C90-Cassette, auf der er das Gespräch aufzuzeichnen gedenkt, ganz durchhören wollte, um sicherzugehen, dass die auch wirklich unbespielt ist. Sicher ist sicher! Ebenso erinnerungswürdig ist der Phoner mit Ozzy Osbourne, der einigermaßen schwer zu verstehen, jedoch total nett und witzig am Start war. Hinterher mailte Sharon, die währenddessen neben ihm saß, und bot mir noch ein ergänzendes Interview mit ihr an, das war sehr cool. Im Zoom-Talk mit Gary Lee Conner von den Screaming Trees taperte seine Katze die ganze Zeit auf der Tastatur herum und versperrte den Bildschirm. Mit Erin Burkett von Fat Wreck Chords musste ich das Gespräch abbrechen und neu ansetzen. Auf dem Nachbargrundstück direkt nebenan war ein Typ mit einer Motorsäge zugange und holte wohl einiges an Ästen herunter, ein Höllenlärm. Das Gespräch mit Ian Astbury von The Cult habe ich auf unserem Trockenboden zwischen aufgehängter Wäsche geführt. Anni hatte Geburtstag, die Kids machten Party, ein Stockwerk drüber, direkt unterm Dach, war es einfach ruhiger. Unvergessen auch Taylor Hawkins, der während unseres Telefonats für die Mint-Kolumne „Soundtrack Of My Life“ das Abendessen für seine Kids kochte, und wir an einer Stelle des Gesprächs zusammen „Mustapha“ von Queen anstimmten. Seufz. Da kommen viele persönliche Erinnerungen zusammen, natürlich auch die traurigen, neben Hawkins an legendäre Typen wie eben Mark Lanegan und Scott Weiland, an Cornell und Cobain, die alle ihren Schlussakkord viel zu früh gespielt haben.
Welches Konzert hat dich endgültig zum Musiknerd gemacht?
Ich war wohl längst ein Nerd, bevor ich überhaupt mein erstes Konzert gesehen habe. Beatles, Glam, Punk, in der Reihenfolge, hatte meinen Lebensweg geprägt und vorbestimmt, da war ich gerade mal 12, 13. Mein erstes Konzert war No More, Sommer 1980, auf einem Bauernhof in Langwedel. Ich trug mein bei Tutti Frutti soeben gekauftes PIL-Tshirt, war stolz wie Bolle und das Konz war ein Hammer. Morgens um 2 Uhr mussten wir entlaufene Kühe zurück in den Stall treiben, zur Belohnung bekochten uns die Bauernfamilie mit Zwiebelsuppe, wir mit einem Haufen Punks in der riesigen Küche. Ich schlief auf drei zusammengeschobenen Küchenstühlen, trampte am nächsten Morgen müde, glücklich und geflasht nach Hause. Ein Jahr später gründeten wir unsere erste Band. Alles hing miteinander zusammen, es konnte gar nicht anders kommen! Vier Jahre danach probten wir mit unserer Band New Eminence im Dietrichsdorfer Bunker, Tür an Tür mit No More.
Welches Konzert hast du komplett unnötigerweise verpasst und ärgerst dich darüber bis heute?
Da gibt es viele. So früh mein Kumpel Ralf und ich mit Punk und New Wave am Start waren – Weihnachten 1977 „Never mind the Bollocks“ von meiner Tante geschenkt bekommen – so vergleichsweise spät wurden wir zu Konzertgängern. Ich stand längst selbst auf der Bühne, als sowas wie Konzerttrips nach Hamburg erst usus wurden. Was ich gern gesehen hätte: Kraftwerk im Ball Pompös. Oder die Berliner Krankheit mit den Einstürzenden Neubauten. Oder, ich könnte heulen, wenn ich daran denke: Roxy Music in der Ostseehalle, Support waren Wire, das muss man sich mal vorstellen. FUCK! Ich Honk! Apropos Pistols und Tante Renate, nochmal zum Thema Interviews: Am denkwürdigsten schloss sich der Kreis für mich wohl im Talk mit Steve Jones. Ich konnte es mir als ewiger Fanboy und Pistols-Fan nicht verkneifen, ihm die Story von Weihnachten 1977 zu erzählen. „She sounds like a cool chick“, meinte Jones und fügte an, dass er so eine Tante auch gern gehabt hätte. Ewige Props für dich, liebe Lieblingstante!
Hat auch nichts mit dem Buch zu tun, aber muss raus: Sex Pistols mit Frank Carter. Meinung?
Der Hammer. Legendär. Ein Konzert fürs ewige Erinnerungsalbum. Wir haben uns ja schon drüber ausgetauscht. Die Band tight as fuck, Frank Carter die perfekte Wahl, das ganze Set, der Sound, das Ganze im Herzen Londons…irre. Ich verstehe auch Leute, die sagen, hey, nicht mehr the real deal. Ohne Rotten, zu alt und überhaupt. Aber als jemand, der dort war: Ich hätte es nicht für eine Million Pfund verpassen wollen. Ralf und ich standen da, einen kalten Pint in der Hand, Tränen in den Augen. Un-ver-gesslich!
Okay, abschließend zurück zum Kernthema: Was ist der perfekte Abgang?
Man ist so um die 100 Jahre alt, die Knie sind etwas morsch, aber sonst geht es noch einigermaßen. Es naht das Ende eines sauguten Gigs, der Laden ist voll, die dritte Zugabe ist durch, im Moshpit wird gejubelt – und dann kippt man aus den Latschen. Schade um das Aftershow-Bier natürlich, dafür muss man aber nicht mehr mit abbauen.
Zugabe: Muss man / Sollte man gehen, wenn es am schönsten ist?
Nein, im Gegenteil: Wenn es am schönsten ist, immer weitermachen. Auch wenn es mal Scheiße ist, weitermachen. Klar, wenn der Bock schwindet, ist es auch okay, das Flämmchen runterzudrehen, gerade wenn man schon so einiges hinter sich hat. Ansonsten gilt: Auch mal durch ein Tiefgebiet schippern, dahinter wird es ganz bestimmt wieder hell. Wie hieß es so treffend bei den New York Dolls: Some day it will please us to remember even this.
Interview: Philipp Wolter mit Input von Leif Altenburg.
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