TURBOSTAAT, NERVOUS ASSISTANT / 24.10.2024 – Lübeck, Treibsand
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- Kategorie: Berichte aus dem Pit
- Veröffentlicht: Mittwoch, 30. Oktober 2024 21:34
- Geschrieben von Philipp Wolter
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Gespräch auf der letzten Hunderunde vor Konzertabfahrt:
„Martina, sind TURBOSTAAT eigentlich immer noch deine Lieblingsband?“
„Ach, da können die ja nichts für.“
Das ist mal ein Statement! Seine Lieblingsband kann man sich nicht aussuchen. Oder andersherum? Seine Fans kann man sich nicht aussuchen.
TURBOSTAAT können sich jedenfalls ihre Setlist aussuchen! Und in der Hinsicht haben sie zum Fünfundzwanzigjährigen (Glückwunsch!) eine wirklich besondere Aktion erdacht: Zuerst werden an sieben Tagen nacheinander in sieben verschiedenen Städten die bisherigen sieben Studioalben jeweils zur Gänze live gespielt. In Lübeck „Flamingo“, in Bremen „Schwan“, in Chemnitz „Vormann Leiss“, in Berlin „Das Island Manöver“, in Göttingen „Stadt der Angst“, in Frankfurt „Abalonia“ und in Nürnberg „Uthlande“. Am 08.11. wird in Husum eine Darbietung der „Nachtbrot“-Livescheibe folgen und schließlich kommt im Januar auch schon eine Komplettaufführung der neuen Platte „Alter Zorn“. Was für ein Berg Arbeit allein an Proben dahintersteckt, will ich gar nicht wissen. Einfach mal ALLE Songs parat zu haben, die in 25 Jahren veröffentlicht wurden! Dazu kommen die Logistik und Umsetzung einer solchen Tour. Respekt, ich kenne spontan keine Band, die etwas Vergleichbares durchgezogen hat. Am liebsten hätten wir uns alle Konzerte angeguckt, aber man hat ja noch andere Hobbys. Also ab nach Lübeck für den „Flamingo“!
Bilder von MJ.
Wie genial die Treibsandcrew den geliebten Schuppen renoviert und aufgepeppt hat, hab ich ja neulich schon im IGNITE-Review abgefeiert. Also gleich rein ins Konzertvergnügen: NERVOUS ASSISTANT aus Bremen eröffnen den Abend mit Hardcore / Punkrock der alten Schule. Das SO MUCH HATE-T-Shirt des Gitarristen ist gar kein schlechter Verweis auf die möglichen Einflüsse dieser Band. Stilistisch nicht eingeengter Hardcore, fern von tough-guy-Klischees oder Bollo-Geprügel, dafür viele feine Gitarrenideen und Melodien, gleichzeitig aber auch eine gewisse Grundknarzigkeit und Härte. Das natürlich ausverkaufte Treibsand reagiert positiv auf die wahrscheinlich fast allen unbekannte Band. Der Sänger wirft gen Ende Dutzende kleiner Gegenstände ins Publikum, von denen ich zunächst denke, dass es vielleicht Pins seien. Aber es sind mit Gummibändern zusammengerollte Textstreifen. Martina fängt „Jungblut“, ich klaube „Im Auftrag des Herren“ vom Boden und später finden wir noch zufällig „Tag im Moor“. Schöne Idee, zumal die Texte gegen Faschismus und religiösen Wahn oder für Start-Today-Action lesenswert sind!
TURBOSTAAT spielen die „Flamingo“-Songs sogar inklusive aller Samples von der Platte und so markiert das „We are on the way to find you“-Intro für „Drei Ecken – ein Elvers“ den Beginn der folgenden Abfahrt. Hört man sich die Platte heute an, erschlägt einen der Furor förmlich, mit dem die Band das Ding damals 2000 bei Ulf Nagel eingetrümmert hat. Das ist gerade soundmäßig so nicht zu reproduzieren. Wäre ja auch Quatsch. Das gilt auch für Jans Gesang, der damals noch so einen überdeutlichen norddeutschen Dialekt aufwies – „Das ist auch dein Zuhauseee!“ Es käme einer Karikatur seiner selbst gleich, wenn er das heute so nachahmen würde. Nein, TURBOSTAAT spielen die alten Stücke mit ihrem heutigen Klangbild – und eben auch ihren Fähigkeiten. Das ballert schon immer noch ordentlich an vielen Stellen, viel erstaunlicher finde ich aber, was für Melodien sich teilweise aus den Stücken schälen. Was haben die damals schon für Knaller geschrieben! Zurecht werden alle Platten gerade wieder neu aufgelegt. Der textsichere Mob singt immer wieder saulaut mit und so verschmelzen bei „Am 1. Mai ist Weltrevolution, weitersagen!“ (heftig die Zeilen: „Ein Kopf bleibt stehen“ und „So ein Leben muss doch etwas bringen…“), „Blau an der Küste“ oder „Arschkanone“ Töne aus dem Publikum mit denen von der Bühne. Bei „Arschkanone“ kommt das „I’ll kill you“-Intro und am Ende schreien Jan und Toby (b) um die Wette: „Stirb! Stirb! Stirb!“ Jeden dieser Songs hat man schon so oft gehört, aber viele schon lange nicht mehr oder gar nie live. „Cpt. Käse“ („Und ein Anruf kostet 15 Pfennig“…), markiert das Ende der A-Seite, was Jan auch in der darauf folgenden Ansage anmerkt: „Jetzt sind wir an der Stelle, wo man zu Hause die Platte umdreht.“ Überhaupt macht Jan heute mehr und längere Ansagen als sonst, denn es gilt natürlich, etwas zum Anlass und zum Konzept zu sagen sowie alte und neue Weggefährten zu begrüßen. „18:09 Uhr. Mist, verlaufen“ („‘Sandra, ich liebe dich‘ steht dort im vierten Stock“) ist dann noch so ein bewegender Song, bei dem ich vielleicht nicht alle Bilder aufschlüsseln kann und doch einen Kloß im Hals habe. Es folgen das treibende „Gehen Sie über B…“, das 3000 YEN-Cover „U-Boot Manöver“, „Rache für Mautze“ und „Wieso Herbst?“, bei dem alle durchdrehen und die “Fuck Winter!“-Stellen mitschmettern. Ist das Konzert nun vorbei? „Als wir nur die erste Platte hatten, war an dieser Stelle Schluss. Hat sich damals niemand drüber beschwert“, erzählt Jan und verrät, dass man natürlich noch ein wenig weiterspielen werde. Wie erhofft, bleiben TURBOSTAAT in der Chronologie und spielen nun erst sechs Stücke von „Schwan“ und dann drei von „Vormann Leiss“, was ich sehr passend finde und gleichzeitig nur einen Teil der Setlists der Folgetage vorwegnimmt. Auch hier auf und vor der Bühne ein emotionales Spektakel, natürlich gibt es Spielfehler und ein wenig Chaos, gleichzeitig Freude über diese tollen Stücke, die sich heute abermals als zeitlos erwiesen haben! Schön auch, dass sich während des Konzerts ein Schmetterling auf Peters Kopf setzt, irgendwie ein passendes TURBOSTAAT-Bild.
Das war wirklich etwas Besonders – auf die nächsten 25 Jahre TURBOSTAAT!