POSTCARDS, INTERBELLUM / 23.09.2025 – Hansa48, Kiel

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Die guten Zeiten von Live Musik in Kiel scheinen irgendwie vorbei zu sein. Viel kommt ja nicht mehr, aber ab und zu – man/frau muss nur genauer hinsehen – lassen sich doch noch einige Perlen entdecken. So zum Beispiel im Hansa48, das immer mal wieder mit Überraschungen aufwartet und für Furore sorgt. Heute in eben diesem Ort spielt Musik aus dem Libanon. Aber Vorsicht, liebe Freunde abend- und morgenländischer Musik! Hier wird gleich nicht auf der Rabāb genudelt oder die Schabbaba gedudelt, nein, die bleiben zuhause und modern und zeitgenössisch kommt stattdessen das Georgel heute daher. 

Das Hansa48 ist, denke ich, ganz ok gefüllt. Es ist eben Dienstag, draußen ist es kalt und dunkel. Bei Suppen Dieter gibt es heute außerdem den Bohneneintopf „Feuriger Mexikaner“ im Angebot für 2,80 die Schüssel – das saugt auch potentielles Publikum ab. Egal, rein ins Getümmel.

 

POSTCARDS

 

 

Interbellum – also die Zeit zwischen 2 Kriegen – ist der libanesische Singer/Songwriter Karl Matter. Bei dem Künstlernamen Interbellum könnte man auch an eine Metalcore oder Hardcore Band denken, aber das wäre die völlig falsche Richtung. Stattdessen spielt er durchaus talentiert Gitarre und singt dazu meist melancholisch – also unglücklich verliebt, heute die Mieterhöhung in der Post gehabt oder überall ist es schöner als bei Tante Gerti im Garten. Es werden aber gewiss auch ernstere Probleme behandelt. Bei einem Lied kommt ein Drum Computer dazu, welchen er sich vermutlich bei den Sisters ausgeliehen hat. Ich erinnere mich noch an ein Lied über - oder besser: eine Ode an - Aarhus! Ja, die dänische Stadt! So toll ist das da ja nun wirklich nicht, aber „Arhus is beautiful at Night“. Expensive ist es da aber definitiv. Egal. 

Mir persönlich fehlt etwas die E-Gitarre. Hier stehe ich, ich kann nicht anders, sagte so oder so ähnlich Martin Luther in Worms zum Kaiser. Und ich kann auch nicht anders, das gerade dargebrachte Musik Genre ist nun mal nichts für mich. Aber der Sänger selbst kommt super sympathisch herüber, bedankt sich, auftreten zu dürfen und überzeugt mit teils ernsten, teils lustigen Monologen zwischen den Liedern. 

„Wir im Libanon haben die sh*ttiest Nachbarstaaten in der Welt“- ok, aber da frag mal die Ukraine. Oder eher lustig: „Normalerweise spiele ich nur in Stadien, da hört keiner, wenn ich meine Gitarre stimme…“ 

Danke für den Auftritt, demnächst bitte auch eine Hymne über Kiel. Schön ist es nicht, aber das liegt ja im eigenen Ermessen, dies zu vertonen. Jetzt aber zum Headliner des Abends!

 

POSTCARDSPOSTCARDS

 

POSTCARDS sind laut Info die dienstälteste noch aktive Alternative Band des Libanons – also praktisch Slime aus Beirut. Minus die Ansagen von Diggen (Ex-Slime) natürlich. Und statt Polit-Punk gibt es ein Gebräu aus Dreampop, Postrock und Shoegaze. Dieses aber auch durchaus mit Politik. Aufgetreten wird in klassischer E-Gitarre, E-Bass und Schlagzeug Formation. Julia Sabra übernimmt den Gesang, tauscht aber auch mal ihre Gitarre mit dem Basser Marwan Tohme und bedient dann das Keyboard derweil Pascal Semerdjian am Hintergrund die Drums bearbeitet. Und das machen sie richtig gut! 

„Gallia est omnis divisa in partes tres“, weiß der Lateiner durch Caesars „De Bello Gallico“ seit der ersten Latein Stunde damals in der 6b. Oder 7b? Egal. Ebenso verhält es sich mit der Musik von Postcards. Hier wird nicht unbedingt vermischt, es wird getrennt geliefert. Einfach so. In 3 Teilen wird geliefert. Mal wird Shoegaze gespielt, der sich in Noise Eruptionen entlädt und die E-Gitarre dabei einen Fanal aus Trauer, Resignation und Hoffnung entzündet. Das ist großartig und die Band spart dabei auch nicht mit dem Geprügel auf die Becken. 

Dann wird wiederum ein Gang herunter geschaltet und der Dream Pop übernimmt das Geschehen. Langsamer geht es dann vor sich, wobei nicht das Zuckersüße einer Band wie Tiger Trap mit der großartigen Rose Melberg erreicht wird. Das ist aber auch gar nicht gewollt, vielmehr fährt der Zug in Richtung einer Band wie Portishead und es wird nicht an jedem Bahnhof auf der Strecke angehalten. Dies liegt aber auch an dem ätherischem Gesang, der gerne gekonnt in die Kopfstimme wandert und über den verträumten Melodien hin und her wabert. Aber Trauer und Wut bleibt ein ständiges Thema, wie uns Julia zwischen den Liedern erklärt. 

Ein ständiges Chaos im eigenen Land, wie es sonst nur zwischen Harmsstraße und Bölterkamp am Südfriedhof in Kiel zu finden ist, wirtschaftlicher Niedergang, und – wir erinnern uns – die Explosion von fast 3000 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen Beiruts haben Spuren hinterlassen. Gerade das letztere Ereignis bestimmt das Geschehen der vorgetragenen Musik. 

„Wir haben für ein Musik Video eine Wohnung absichtlich verwüstet“, erzählt uns die Sängerin. „Einige Zeit später war die Explosion und die Wohnung sah genauso aus – aber ohne dass wir das wollten!“ 

Aber ohnehin ist die Band sehr kommunikationsfreudig. In perfektem Englisch bedankt sich die Sängerin für die Möglichkeit, in Deutschland zu spielen, die super Abmischung und das höfliche Publikum. Die Scorpions aus Hannover, neben dem Porsche 911 Turbo sicherlich unser größter Export Schlager, haben schon überall auf der Welt Konzerte einer ihrer unzähligen Abschiedstouren gespielt – aber auch in Beirut? Oder gar in Tripolis (Libyen)? Ich weiß es nicht, aber ich denke nein. Es muss doch eine Band größer sein als die Scorpions, wenn sie aus einer dieser Städte kommt und jetzt in Hannover, Kiel oder Wolfenbüttel spielt! Da gibt es doch gar keine Zweifel. Aber egal. 

Zum Abschluss der Aufzählung – aber auch im Set zwischendurch - wird noch die Sparte Postrock bedient. Das letzte Stück des regulären Sets ist „Dust Bunnies“ von ihrem aktuellen Album „Ripe“. Im libanesischen Dialekt des Arabischen bedeutet „reif“ gleichsam „erschöpft“ – also praktisch vom Wachsen. Dies nur als kurze Erklärung der Band, da sie sich nun wohl so und so fühlen. Das Lied ist nebenbei ein Oberkracher und läuft seitdem auf Dauerwiederholung bei mir. Hier werden alle Register des Postrocks gezogen und über der verzerrten Gitarre schwebt stets die gefühlsgeladene Stimme der Sängerin, der ein mittelschnelles Schlagzeug den Takt vorgibt. 

Dann beginnt – wie sie richtig bemerkt – das gleiche Spiel wie immer. Die Band verschwindet, wir fordern eine Zugabe und sie wird gespielt. Das ist in Beirut nicht anders als in Boston, Kiel oder Kinshasa. I guess, we are all in this together. Somehow.

 

Angeblich waren Postcards vor 2 Jahren schon in der Hansa, da habe ich sie leider verpasst. Wenn sie in 2 Jahren zurückkommen, bin ich definitiv wieder dabei.

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