ROGER MIRET mit Jon Wiederhorn: UNITED & STRONG: NEW YORK HARDCORE – MEIN LEBEN MIT AGNOSTIC FRONT (Buch, IRON PAGES 2018)
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- Kategorie: Lesefutter
- Veröffentlicht: Mittwoch, 07. Juli 2021 18:52
- Geschrieben von Philipp Wolter
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Dieses Buch ist mal harter Tobak! Die Gewalt, der Roger Miret in seiner Kindheit und Jugend ausgesetzt ist, wird sehr explizit geschildert. Somit würde ich das Buch nicht uneingeschränkt für jede:n empfehlen.
Aber diese Schilderungen müssen wohl sein. Ich zumindest habe dadurch vieles um Roger Miret und AGNOSTIC FRONT herum erst richtig erfassen können. Man macht sich als privilegierter Europäer ja gern lustig über so manches NYHC-Klischee und fragt sich, warum z.B. der Begriff „Unity“ in den Texten derart strapaziert wird.
Durch „United & Strong“ wird dies aber relativiert. Denn AGNOSTIC FRONT und die frühe Hardcore/Punk-Szene werden immer wieder mit gewalttätigen Straßengangs assoziiert, was die Band zunächst selbst nicht versteht. Erst als sie 1985 in Los Angeles spielen, wird ihnen klar, dass die südkalifornische Hardcore-Szene sich anders definiert: „Jedes Konzert war eine Schlacht zwischen verschiedenen Gangs. Zu den bekannteren Banden gehörten die LADS, die Suicidals, die United Crew Skinheads und Circle One. Zudem gab es auch noch Splittergruppen innerhalb dieser Gangs, die sich intern befehdeten. Das reinste Chaos.“ (S. 125) Wenn man sich diese Zustände vor Augen hält, ehrt es Roger Miret, dass er sich gegen das Chaos stellt und die Hardcore-Szene einen und gegen White-Power-Schwachmaten abgrenzen möchte.
Der Weg dahin ist lang, die Entwicklung dauert Jahrzehnte. Als Roger Miret vier Jahre alt ist, flieht seine Familie von Kuba in die USA. Sein Vater verprügelt die ganze Familie, bis sich die Mutter von ihm trennt. Doch der folgende Partner, Rogers Stiefvater, ist ein noch größerer Drecksack. Man mag es kaum glauben, was Miret da alles schildert. Die Gewaltexzesse gipfeln schließlich darin, dass der Stiefvater den späteren AF-Shouter mit einem Hammer malträtiert und dabei fast umbringt. Aber der Kreislauf aus Gewalt, Armut und Außenseitertum erklärt natürlich auch, warum AGNOSTIC FRONT später in derart viel Krawalle verwickelt sind. Man kann beim Lesen wiederholt nur mit dem Kopf schütteln, aus was für nichtigen Gründen sich die Bandmitglieder auch untereinander ständig prügeln.
Was für eine Galgenvögel-Combo! Als AGNOSTIC FRONT „Live at CBGB“ aufnehmen, erzählt Miret den anderen gar nicht erst davon, dass der Auftritt mitgeschnitten wird, damit die Band so natürlich wie möglich agiert. Vinnie Stigma springt natürlich mehr herum, als das er spielt. Die Plattenfirma ist genervt, will Stigma rauswerfen und beruft ein Treffen ein. Doch Stigmas Mutter (!) bekommt Wind davon und ist sauer: “Sie forderte einen ‘Gefallen’ ein und beschaffte neue Manager, die uns begleiten und das Label aufmischen sollten. Zwei Mafiosi aus Jersey wurden dafür ausgewählt. (…) Paulie und Sal kamen im Anzug und sahen aus wie richtige Gangster. Ich bin überzeugt, dass sie wussten, wie man eine Leiche loswurde, aber vom Musikgeschäft hatten sie null Ahnung. Während des Treffens streckten sie ständig den Brustkorb vor und ließen den Macho raushängen. Sie nannten das Label ‘Realistic‘ statt ‘Relativity‘, und sie erzählten dem Label-Manager, dass sie Großes mit uns vorhätten.“ (S. 222)
Obwohl Miret sich lange immer wieder in haarsträubenden Situationen irgendwie durchwurstelt, landet er schließlich 1989 wegen Drogenhandel für 18 Monate im Knast. Dieser Abschnitt des Buches ist allein schon die Lektüre wert.
Insgesamt zeigt sich Roger Miret in dieser Autobiographie reflektiert und verurteilt viele seiner Handlungen im Nachhinein. Es war auch eine gute Idee, mit Jon Wiederhorn einen erfahrenen Schreiber dazuzuholen, der sicherlich für den guten Flow mitverantwortlich ist.
Für AF-Hörer:innen lohnt sich die Lektüre definitiv, werden doch so einige Fragen geklärt. So erfährt man zum Beispiel, was nach der 1990er Tour mit dem schnauzbärtigen Roadie passiert ist, der statt Roger Miret gesungen hat, wie die Band zu ihrem Deal mit Nuclear Blast gekommen ist oder wie sich das Verhältnis zu Mirets Bruder Freddy Cricien (MADBALL) entwickelt hat.