THE NOTWIST / 19.04.2024 - Kiel, Pumpe

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THE NOTWIST gestern in der Pumpe war eins der besten Konzerte, die ich je erleben durfte: Sound geil, Band geil, Musik geil. Eine unfaßbare Palette an Sounds, Stimmungen und Texturen! 7 Musiker:innen an Gitarren, Baß, Schlagzeug, Saxophon, Harmonium, Vibraphon, Plattenspieler(!), Percussion und diversen Elektronika. Eine reichhaltige Setliste mit 2 Zugabenblöcken, ein einziges Fließen und Ineinanderübergehen - und bei Bedarf souveräne Exkursionen über die eigenen Genregrenzen hinweg.
 
 
THE NOTWIST
 
 
 
Wobei der Begriff „Genre“ an sich schon zu limitierend, einfach zu klein ist für eine Band wie diese. „Indierock“ ist hier schon immer nur ein Referenzpunkt gewesen für musikalische Genese nach ganz eigenen Regeln, und das wird mir kleinem Geist retrospektiv nochmal so richtig klar, wenn ich bedenke, dass auf den ersten Notwist-Alben Micha Achers Stimme in einer Wall aus Marshall-Noise vor sich hinmelancholisierte.
 
Die seinerzeit von mir heiß ersehnte „12“ [1995] war dann schon ein Werk des Übergangs mit Loops und Elektronik, mehr cleanen Gitarren und punktuellem Metal-Fauchen, das in der gemäßigteren akustischen Umgebung nur umso harscher wirkte. Auf „Shrink“ [1998], einem meiner persönlichen Favoriten, gab es u.a. ein trötiges Freejazz-Solo und Verfeinerung der elektronischen Elemente. Den Höhepunkt dieser Entwicklung markierte 2002 „Neon Golden“, das als Notwists opus magnum gilt, mir persönlich aber immer einen Tacken zu hermetisch war. Hier ist nach schier endlosen Aufnahmesessions, in deren Verlauf auch mal mühevoll komplettierte Arrangements in die Tonne befördert worden waren, alles mit der Messerspitze portioniert an seinem Platz, und es regiert eine bis auf die Kapillarebene choreografierte Schönheit.
 
 
THE NOTWISTTHE NOTWIST
 
 
Seitdem ist The Notwist Soundwelt wieder offener geworden, analoger, lo-fi-affiner, psychedelischer und auf dem aktuellen Album „Vertigo Days“ [2021] sogar krautiger: Die handgeklöppelten Beats erinnern total an CAN und bringen die heute Abend spätestens ab dem 3. Song euphorisierte Meute zum Tanzen. Der Drummer ist über jeden Zweifel erhaben und metert wie eine Uhr. Im letzten Drittel verlassen Saxophonistin, Vibraphonist und die beiden Gitarrenkeyboarder die Bühne, und die Acher-Brüder dreschen mit ihm einen Hardcorebrecher im Notwist-Stil, und er spielt einen amtlichen Uffta aber den eben auch mit mehr Klasse und Distinktion, als es deine Mutters x-beliebiger Knüppelhein tun würde.
 
An anderer Stelle driften sie zu siebt ins Kakophonische ab. Die Saxofonistin kaskadiert wie PHAROAH SANDERS. Drummer zuppelt situationsadäquat und trägt ein verbiestertes Jazz-Gesicht. Vibraphonist fegt mit den Klöppeln brüsk sein Instrument. Und „Pilots“ beherbergt eine Arena-Techno-Strecke, auf der UNDERWORLD anklingen - einfach Wahnsinn, was dieses Septett scheinbar mühelos aus der Musik holt! Der immer wieder aufbrandende Szenenapplaus ist gerechtfertigt.
 
 
THE NOTWIST
 
 
Das Auge hört ja mit, und dementsprechend gibt es eigentlich jede Sekunde Interessantes zu sehen: Menschen wechseln den Ort und das Instrument, tauschen gar Instrumente, Markus Acher sampelt sich selbst und singt dann unisono mit den Samples (fast creepy), legt eine Platte auf, und das Knacken sucht sich seine Stelle im Soundgeflecht. Der Vibraphonist bearbeitet seine Klangbarren mit y-förmig in die Hand genommenen Klöppeln oder geht mit Geigenbogen über die Ränder. An einer anderen Stelle macht er quasi Pizzicatos mit den Spitzen eines Stickpaares. Da schaut man gern zu, zumal jede einzelne Variation, jedes Detail dank des glasklaren Sounds wirklich hörbar ist. Vibraphon und Indierock, da werde ich immer an TORTOISE denken müssen. The Notwist sind in ähnlicher Weise frei und ganz bei sich - aber nie akademisch und abgewandt. An ihrer unübersehbaren Spielfreude (viel Lächeln, viel Blickkontakt) haben wir alle teil und freuen uns mit. Da braucht Markus Acher, der Anti-Frontmann schlechthin, nicht viel zu reden zwischen den Songs, sein verschmitzter Gesichtsausdruck sagt alles.

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